Das Gewand Christi hat Übergröße

Die Heilig-Rock-Wallfahrt zieht mehr Menschen nach Trier als erwartet: Wie ein stark geflicktes Stück Stoff zum Symbol hochstilisiert wird und eigentlich doch nur den Anlaß zu einem frommen Ausflug bietet  ■ Von Heide Platen

Franziska Hermes ist „Jakob 3“. Jedenfalls immer dann, wenn das Handy piept. Die ältere Dame im ordentlich blauen Blazer sortiert Pilgerströme. Sie wirkt vor dem linken Portal des Trierer Doms. Dorthinein gehen die unangemeldeten angereisten WallfahrerInnen. Am rechten Eingang stehen die Gruppenreisenden an.

Franziska Hermes ist gläubige Katholikin und eine der 2.500 freiwilligen HelferInnen bei der Heilig-Rock-Wallfahrt. Sie ist ihrem Bischof treu ergeben. Und der hat immer wieder betont, daß es nicht eigentlich um die Verehrung der Reliquie gehe. Die ungenähte, in einem Stück gewobene Textilie sei – ob echt oder unecht – ein Symbol der Einheit der Christenheit. So sagt sie brav, daß es hier „nicht nur um das Gewand geht“.

Das Handy quäkt, und Franziska Hermes wird wieder zu „Jakob 3“. Wie die Lage ist? Die Lage ist gut, die Atmosphäre wunderbar. Doch so ganz kann die Helferin dann doch nicht über ihren Schatten springen: „Es gibt berechtigte Gründe anzunehmen, daß es wirklich das Gewand Jesu ist.“

Das Defilee im Dom gibt eher dem Bischof recht. Keine Spur von mittelalterlichem Mirakel. Die Stimmung ist heiter, mehr weltlich neugierig als religiös ergriffen. Der Rock könnte genausogut auch die Büste der Nofretete sein. Im Mittelgang des Doms strömen die beiden Menschenschlangen vom rechten und linken Eingang wieder zusammen, schieben sich langsam vorwärts. Die Andachtsstunde hat gerade begonnen. Die Akustik spielt den Ohren Streiche. Die Litanei klingt wie ein fröhlicher, afrikanischer Gesang. „Ma ninni ma! Ma ninni ma!“ Pilger Karl-Heinz übersetzt: „Magnificat anima mea! Er erhebt meine Seele!“

Der braune, filzige Rock liegt ausgebreitet auf einem schwarzen Sockel unter einer Panzerglaspyramide vor dem Altar. Nur wenige beugen die Knie oder bekreuzigen sich. Der junge Mann in der ledernen Biker-Kluft der „Street Angels“ des MC Fraulautern ist die Ausnahme. Andächtig streicht er mit der Hand über den Schrein, als erhoffe er sich ein ganz persönliches Wunder.

Im bischöflichen Vikariat hinter dem Dom werden die Pilger gezählt. 180.000 sind es am Samstag. Nächstes Wochenende sollen es über 200.000 werden. Pressesprecher Burr will von Wundern nichts wissen: Zeit und Alter, die Jahrhunderte der Verehrung sind der Stoff, aus dem die Würde des Gewandes ist, „Symbole sind einfach wichtig für die Menschen“.

Die Rennmeile der Gläubigen und Ungläubigen führt vorbei an der Konstantin-Basilika zu den Kaiserthermen. Da steht das weißblaue Pilgerzelt. Die überbordende Fürsorglichkeit christlicher Dienstleistung, die heuer alle in Trier ereilt, die in der Innenstadt suchend um sich blicken, hat ihren Standardsatz: „Kann ich Ihnen helfen?“ Wallfahrtsführer sind in verschiedenen Sprachen zu haben. Nein, sagt eine Helferin dann doch etwas säuerlich, „in Latein haben wir ihn nicht“.

Bustransfer und Essensversorgung sind perfekt. Und das ist eines der kleinen Wunder von Trier: Wo immer die BesucherInnen ein Hinweisschild finden, weist es die Entfernung zu den Essenstöpfen aus. Und immer sind es 150 Meter. Das zweite Wunder heißt M 3 und ist mit roten Essensmarken zu erreichen. Vor M 3 drängen sich die pubertierenden Massen. Denn da gibt es Spaghetti mit Tomatensoße. Und die werden und werden nicht alle. M 1 ist Bratwurst. Der Pilgereintopf mit Fleischwurst und Weißweinrahm ist mehr die Speise der älteren 10.000.

Die hören sich an diesem Tag alle an wie die Fernsehfamilie Becker. Das halbe Saarland ist mit der Bahn gekommen. Bischof Hermann Josef Spital hat die Menschen am Bahnhof persönlich in Empfang genommen und ist dafür im vollen Ornat in den städtischen Linienbus geklettert. Zur Abreise werden die PilgerInnen auch gezählt. „Sin all doo?“ „Joo, sin all doo!“

Der Mist im Hof des Kulturzentrums „Tuchfabrik“ ist auf ordnungsamtliche Anweisung wieder entfernt. Er hat, sagt Helmut Schwickerath, Redakteur der Trierer Alternativzeitung Katz, zwei Tage lang zum Himmel gestunken. Der Mist war in Rock-Form ausgebreitet und Teil der Kunstausstellung „Rock-Art – Kunst und Provokation“. Der Frankfurter Künstler Henner Drescher hat, zusammen mit anderen, allerlei Blasphemisches besorgt. Zur Eröffnung ist auch ein Weihbischof gekommen. Er habe, sagen BeobachterInnen, die Lästerungen leutselig ertragen.

In den ExpertInnen-Streit um die Echtheit der erstmals präsentierten ungestopften Unterhose von Karl Marx wird er sich kaum einmischen. Die wird in der Gaststätte „Glasmost“ ausgetragen, die ihrerseits nur ein gestopftes Exemplar besitzt. Das „Aktionsbündnis Heilig Rock“, das für den 1. Mai zu einer Demonstration gegen den Aberglauben aufgerufen hat, hat einen schweren Stand. Sogar das offizielle Programm des Bistums erwähnt die „Rock-Art“-Ausstellung artig.

Das erwartete große Geschäft ist ausgeblieben. Seit der Eröffnung am 19. April ist der Umsatz in Trierer Geschäften sogar zurückgegangen. Textilgeschäfte und Kaufhäuser meldeten „Totalausfall“. Die TriererInnen und die KundInnen aus dem Umland bleiben wegen des Verkehrschaos weg. PilgerInnen sind, stellte die Lokalpresse fest, „keine Touristen“. Als Bischof Spital 1992 zur Heilig-Rock-Wallfahrt aufrief, hatte er eigentlich eine kleine, regionale Veranstaltung im Sinn. Inzwischen stellte er fest: „Uns ist die Wallfahrt ein Stück weit aus der Hand geglitten.“ Die Organisation rechnet bei geschätzten Kosten von 2,2 Millionen Mark mit einem Defizit von einer Million.

Zum samstäglichen Gottesdienst vor dem Dom drängen mehrere tausend Menschen. Pilger Karl-Heinz ist unpünktlich. Er kommt erst zum Kyrie: „Hier kennt mich ja keiner.“ Und staunt: „So einen Aufwand habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen.“ Auf dem Podium agieren zwei Dutzend Priester, Dekane, Bischöfe: „Die meisten Kirchen haben heute nicht einmal so viele Meßdiener.“ Bischof Spital prunkt in modernem Gewand. Das leuchtende Kardinalsrot ist innen türkis gefüttert und an der Passe mit bunt geometrischen Bogen abgesetzt. Weihbischof Jakob hält die Predigt und betont den Symbolcharakter der Verehrung des ungeteilten Heiligen Rockes: „Die Liebe verändert nicht die Welt, aber sie verändert die Liebenden.“ Und er bleibt im Bild, als er Johannes XXIII. zitiert: „Wer mit Liebe bekleidet ist, der ist bestens angezogen.“

Warum nur ist eigentlich jahrhundertelang erbittert um den Heiligen Rock gestritten worden? Ist er echt oder falsch, ein Rock oder ein Unterrock? Die Tunika Christi sei, mutmaßen die meisten inzwischen, eher ein Chiton, ein Untergewand. Die fromme Helena soll es nach Trier, der römischen Handels- und Verwaltungsstadt im Hinterland der unterworfenen Treverer gebracht haben. Die Schankwirtin war die Geliebte des römischen Prokurators und Kronprinzen Constantius Chlorus, der ab 293 mit dem Ausbau von Treviris zur Residenz begann. Ihr unehelicher Sohn, Constantin der Große, wurde sein Nachfolger. Römische Geschichtsschreiber berichteten über Helenas Reise nach Palästina. Dort habe sie das Heilige Grab öffnen lassen, das Gewand, Nägel und Holz der drei Kreuze von Golgatha geborgen.

Bischof Spital ist vorsichtig. Seit „mindestens 800 Jahren“ sei die Geschichte des Bistums mit dem Heiligen Rock verbunden. Er bezieht sich damit historisch korrekt auf die erste urkundliche Erwähnung: Erzbischof Johann I. ließ das Gewand am 1. Mai 1196 zum Weihetag der Domkirche in den neuen Hochaltar im Ostchor einschließen. Die ersten Wallfahrten begannen, nachdem Kaiser Maximilian 1512 den Erzbischof von Trier drängte, die Tunika während des Reichstags öffentlich zu zeigen. Seither wurde sie, meist in größeren Abständen, vor allem dann gezeigt, wenn Krisen drohten: im Vormärz 1844 unter heftiger, auch kircheninterner Kritik. Dann im Kirchenkulturkampf 1891 und im Juli 1933, eine Woche nach Unterzeichnung des Reichskonkordates. Die Demonstration uniformierter Faschisten als Ordnungsfaktor bedauerte der damalige Bischof Bornewasser ein Jahr später: „Schwere Zeiten sind über uns gekommen.“ 1959 sollte der Rock mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil gegen die Spaltung der Christenheit wirken. Der ökumenische Ansatz strebte da jedoch noch nach einer Einheit der Christen unter der Vorherrschaft des Katholizismus.

Diesmal ist jede Menge Ökumene angesagt. Der evangelische Präses Peter Beier mußte sich deshalb herbe Kritik aus den eigenen Reihen anhören. So mag die Bistumsoberen auch 1996 nicht nur das runde Datum der 800 Jahre bewegt haben, sondern auch der Wille, der Verweltlichung wenn schon nicht ein bißchen Mystik und Wunder, so doch ein Gemeinschaft stiftendes „sichtbares Zeichen“ entgegenzusetzen.

Das Gewand hat Übergröße. Verschleiß und Schimmelpilze setzten ihm zu. In den Jahrhunderten ist es immer wieder verändert und ausgebessert worden. Vermutlich um 1512 erhielt es einen zeitgemäßen Halsausschnitt und wurde im Stil der Chorgewänder angestückelt. Als sich die Stoffschichten im 19. Jahrhundert aufzulösen begannen, tunkten damalige Experten die Tunika in Gummiarabicum mit dem Ergebnis, daß der älteste Wollstoff in der Mitte eine innige „Sandwich“-Verbindung mit späteren Umnähungen einging. Die Textilarchäologin Mechthild Flury-Lemberg datierte den traurigen inneren Rest 1973 in die ersten Jahrhunderte nach der Zeitenwende.

Die 31 PilgerInnen aus dem saarländischen Calmesweiler-Macherbach sind in zwei Tagen 80 Kilometer gelaufen. Karl Heinz Scherer, zünftig in Wanderkluft, verzeichnet „vier schwer Fußkranke“. Sieben Rollen Pflaster sind um blasige Füße gewickelt worden. Zwei davon hat er in echter Pilgermanier unterwegs erbettelt. Und nicht nur Pflaster haben sie von hilfreichen Seelen erhalten. Die Pfarrei, in der sie übernachtet haben, stockte das alkoholische Schmiermittel zur inneren Anwendung um vier Kästen Bier auf: „Keiner hat aufgegeben. Wir sind alle am Ziel.“