Linke Klischees in Schwarz-weiß

■ Neu im Kino: „Etat des lieux“, eine Milieustudie aus den Schlafstädten

Pfarrer Christian Delorme, katholischer Priester in Lyon und in Frankreich als „Apostel der Vororte“ bekannt, war verdutzt nach der Vorführung von „Etat des lieux“. Authentizität konnte er in dem schwarz-weißen Low-Budget-Film aus den und über die Pariser Vorstädte nicht erkennen. Als „karikatural“ empfand er die Sequenz, in dem der Held des Films (hier bietet sich das Wort tatsächlich einmal an) – Pierre Céphas, ein Dreher um die 35 mit original marxistischem Gedankengut – von zwei tumben flics festgehalten und gedemütigt wird. Und als überladen die Szene, wo man im Schoße der Familie – frugal, aber solidarisch – zu Mittag ißt. Der Vater ist ein gutmütiger Brummbär, die Mutter systematisch um das Wohl der Kinder besorgt; eines ist der Halbtags-Revoluzzer Pierre, das andere der ums Abstreifen des proletarischen Dunstkreises bemühte Bruder.

In „Etat des lieux“ (etwa: „Ortsbeschreibung“) ist die Handkamera so fuchtelig und unstet wie die Klischees zementiert sind. Pierre Céphas ist von kapitalistischen Aasgeiern umgeben. Seinen Chef muß er k.o. schlagen, weil der ihm seine linken Ansichten vorhält; die Personalchefs mischen sich in sein Privatleben ein, so daß Pierre das Gespräch mit einem Furz abbrechen muß – und sich auf seine Kawasaki schwingt, auf die man sich in dieser tristen Welt wenigstens noch verlassen kann.

Halb dokumentarisch, halb fiktiv berichten die Regisseure Jean-François Richet und Patrick dell'Isola aus der banlieue, jene Schlafstädte um die französischen Metropolen, wo Arbeitslosigkeit, Gewaltbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit und fundamentalistische Tendenzen zuhause sind. Wir sehen, wie Afrikaner wütend von einer Revolution schwadronieren. Wie sie kapuzenbewehrt beim Rap ihren Haß herausschreien, während die Kamera in einer desolaten Fabriketage herumirrt. Oder wie Pierre ein seltenes Mal seinen zu bescheidener Bürgerlichkeit strebenden Bruder und dessen Frau besucht. Gerne wird „Etat des lieux“ mit „Haß“ verglichen, der auch in Deutschland unlängst mit Erfolg im Kino lief. Allerdings eint die beiden Filme von 1994 bloß das Thema und das Schwarz-Weiß-Material. Denn während „Haß“ nicht in den Niederungen eines vermeintlichen Naturalismus steckenbleibt und sich gekonnt aufschwingt, um einer 1:1-Abbildung zu entfliehen, verfängt sich „Etat des lieux“ in ideologischen Fallstricken und zerfällt in Episoden langatmigen Geschwätzes. Interessanterweise sind all die Szenen, wo die Afrikaner in einem durch Vorort-Slang entstellten Französisch unter sich palavern, als einzige französisch untertitelt – und unterstreichen so auch deren Abgrenzungstendenz noch einmal.

„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“, heißt es im Vorspann bereits, und im Nachspann werden klassenkämpferisch Dankes- und Grußadressen ausgeteilt. Die Filmemacher benutzen ihr marxistisches Gedankengut ohne jegliche Distanz. „Etat des lieux“ wirkt dadurch merkwürdig antiquiert, gerät scheinbar zu einem Film aus politisch bewegteren Jahren.

Ironie dabei: Auch die stramme marxistische Linie des Films läßt sich heutzutage mühelos in die Filmindustrie integrieren. „Etat des lieux“ wurde von „La Sept“, einem großen französischen Fernsehsender, co-produziert. Die Kulturindustrie ist sich heute ihrer Macht so sicher, daß politische Berührungsängste gar nicht mehr existieren. Man kann das Fortschritt nennen. Alexander Musik

Heute, 20 Uhr und morgen, 18 Uhr, Schauburg (OF mit engl. Untertiteln)