Verdoppelung des öden Alltags

■ Knutschen, bügeln, Zähne putzen! "Viva ist so wie seine Zuschauer", sagt Viva. Jetzt hat der Popsender eine Werbekampagne entworfen, die seine Zuschauer wie Viva ins Bild setzt: Weder schrill noch trendy

Der Popsender Viva hat immer gern behauptet, er sei unter anderem so beliebt, weil jedes Kind in dieser Republik seine auf deutsch ansagenden VJs verstünde. Und auch Zuschauer äußern in Umfragen gelegentlich, sie fänden MTV wegen der englischsprechenden Moderatoren nicht so gut. Das ist insofern bezeichnend, als daß die Popwelt für Kinder und Teenager normalerweise reizvoll ist, gerade weil dort Englisch gesprochen wird: Man lernt via Pop eine fremde Sprache kennen oder, bedingt durch fehlerhaftes Hören, eine eigene Version davon –, und das macht soviel Spaß, daß es einem egal ist, ob man die Bedeutung der Wörter begreift. Wenn Teenager bemängeln, daß sie MTV nicht verstehen, klingt das so, als hätten ihre Großeltern gesprochen.

Dieter Gorny, der Geschäftsführer von Viva, propagiert sogar, die Gemeinsamkeiten zwischen seinem Sender und dem Publikum beschränken sich nicht auf die Sprache, sie seien vielmehr grundsätzlicher Art. „Viva ist so wie seine Zuschauer“, sagt er. Punktum. Und spätestens bei dieser Aussage dürfte mancher Fan von Minh-Khai, Shirin oder der blonden Dziobek-Zwillinge ins Grübeln geraten. „Ach du Scheiße“, wird er sich sagen, „ich möchte doch selber gar nicht so sein, wie ich bin – warum schalte ich dann sogar einen Fernsehsender an, um mich zu sehen?“

Gornys zentrale Botschaft hat nun die Wuppertaler Agentur Boros in eine Zeitschriftenkampagne umgesetzt – und damit, wie sie selbt bescheiden einräumt, „eine neue Bildästhetik in die deutsche Werbung“ gebracht. „Die Ästhetik der Kampagne ist nicht schrill, noch nicht mal trendy. Sie ist zeitgemäß. Ihr Inhalt ist Wahrheit“, erläutern die Reklamestrategen. Viva-Werbung gleich wahre Werbung? Das ist ja allerhand.

Die Motive, betont Boros, zeigen keine „gestylten Models in überzeichneten Settings“. Nein, das tun sie wirklich nicht. Wir sehen Mädchen und Jungen in Bademänteln oder papimäßigen Unterhemden, und sie stehen zum Beispiel in Küchen, in denen man „Dr. Oetkers Backbuch“ liest, oder sie liegen in Jugendzimmern, die ein bißchen deprimierend anmuten, weil sie mit einem Lateinwörterbuch, einem Diercke-Weltatlas und einer Dose Gard-Haarspray ausgestattet sind.

Warum macht jemand solche Anzeigen? Gibt es etwa auch unter den ganz Jungen, denen man ja eigentlich mehr zugetraut hätte, ein Bedürfnis nach Verdoppelung ihres öden Alltags, nach „authentischer“ Werbung, wie sie, an die etwas Verkalkteren gerichtet, dieser archetypische Ruhrpottochse für Nike und Borussia Dortmund macht?

Anne, Chris und wie die anderen nicht gestylten Models alle heißen, knutschen, putzen sich die Zähne oder bügeln ihr Hemd ausgehfertig. Und Musik schauen sie sich zwischendurch auch an – das sieht man zwar nicht, aber das verraten einem die stereotyp gebauten Bildzeilen, zum Beispiel „06:43 Uhr. Anne guckt Viva“ oder „22:17 Uhr. Chris guckt Viva.“

Der Sender, verkündet seine Agentur, sei sich „der Tatsache“ bewußt, „daß ein Musiksender niemals so aufmerksam geschaut wird wie etwa eine Nachrichtensendung – ein Umstand, den den Kampagne nicht leugnet, sondern ganz im Gegenteil herausstellt“. Das soll mediensoziologisch gehaltvoll klingen, soll wohl verschleiern, was die Anzeigen andeuten: Viva macht ein zu ödes Programm, als daß jemand „aufmerksam“ zuschauen wollte.

„Größtmögliches Identifikationspotential“ bescheinigt Boros seiner Kampagne, und vielsagend ist in diesem Zusammenhang die Anzeige mit dem Model namens Anna. Man sieht von ihrem Gesicht nur den unteren Teil, wo gerade die Zahnbürste zugange ist, und man sieht das Handtuch für die wahrscheinlich frisch gewaschenen Haare über ihren Schultern hängen. Das Motiv soll den Eindruck erwecken, als sei es ein spontaner Schnappschuß, bei dem leider nicht der komplette Kopf eingefangen werden konnte. Es muß verdammt viel Zeit gekostet haben, die zähneputzende Anna so zu fotografieren, daß es wie ein mißglücktes Bild aussieht.

Die Botschaft dieser Anzeige ist klar: Wir können nicht fotografieren, ebensowenig wie die Viva- Moderatoren moderieren können, und eigentlich sind wir alle nur arme kleine Scheißer wie du da draußen.

Ob diese Message nun in einer „neuen“ oder bloß „werbeuntypischen Ästhetik“ verpackt ist – egal. Maßgeblich ist, daß sich Warsteiner oder Eurocard, Premiere oder Marlboro eine derart radikale, meinetwegen ehrliche Werbung niemals leisten würden. Und deshalb ist diese Printkampagne womöglich besser als alles andere, was jemals unter dem Viva-Logo an die Öffentlichkeit kam. René Martens