Die Sprache der Stimmlosen

■ Unabhängige Sender lassen die Menschen selbst zu Wort kommen. Freier Rundfunk und politischer Wandel in Afrika: das Beispiel Mali.

Kurz nach ihrer Unabhängigkeit hatten fast alle afrikanischen Länder autoritäre Regierungssysteme. Das Afrika der Unabhängigkeit war das Afrika der intellektuellen Eliten, die eng mit den Kolonialmächten kooperierten. Es war das Afrika der Hungersnöte, der Unterernährung, des Analphabetismus: ein geknebeltes Afrika, in dem – mit Unterstützung der früheren Kolonisatoren und ihrer Verbündeten – individuelle und kollektive Freiheitsrechte, insbesondere die Pressefreiheit, systematisch verletzt wurden.

Angesichts dieser Lage, die Elend und Not nach sich zieht, war die afrikanische Bevölkerung zum Kampf gezwungen. Der Weg zur Eroberung der Freiheit war hart und lang. In den achtziger Jahren fand ein Neubeginn dieser Kämpfe für eine Verbesserung der Lebensbedingungen und für die Meinungsfreiheit statt. Konfrontiert mit fortschreitender Verschlechterung der Existenzbedingungen, die sich mit den drakonischen Maßnahmen durch Internationalen Währungsfonds und Weltbank verschärften, ging die afrikanische Bevölkerung gegen die Machthaber auf die Barrikaden und verlangte deren Rücktritt, um den Wandel zu ermöglichen.

In Mali scheiterte die erste unabhängige Regierung. Im November 1968 fand ein Putsch statt, das Land geriet vollständig in die Hand eines Militärregimes. Es unterwarf Mali dreiundzwanzig Jahre lang einer Terrorherrschaft, indem es alle Freiheitsrechte abschaffte und gegen jede Art des Protestes mit grausamer Repression vorging. Doch die Unterdrückung durch Verhaftung, Verschleppung und Mord konnte den vielfältigen Widerstand der Bevölkerung nicht brechen. Nach dem blutigen Volksaufstand im März 1991 ergriff ein „Übergangskomitee für das Wohl des Volkes“ die Regierungsverantwortung. Es förderte die demokratische Öffnung, erweiterte die individuellen und kollektiven Freiheiten und autorisierte die Einrichtung von privaten Radiostationen.

Die Gründung von Radio Bamakan im Dezember 1991 war der Anfangspunkt für die Ausbreitung der freien Radios in der Republik Mali. Andere Sender entstanden, die den Status von privaten, kommerziellen, kollektiven Radios oder von Gesellschaften haben. Inzwischen existieren etwa vierzig freie, nichtstaatliche Radios, davon befinden sich fünfzehn in Bamako. Soviel wie nirgends sonst in Afrika.

Mali ist ein Land mit einer Fläche von 1,2 Millionen Quadratkilometern und etwa zehn Millionen Einwohnern. 80 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Seine Zivilisation beruht auf der Mündlichkeit. Die freien Radios in Mali entwickeln sich in einem Umfeld, das von der nationalen Vielfalt und dem Bedarf an Information und Erziehung der sprachlich und kulturell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geprägt ist. Die Sender bilden ein Bollwerk gegen Versuche zur Wiederherstellung der alten Ordnung. Sie beteiligen sich an der Bewußtseinsarbeit zu den Bereichen Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft. Sie lassen die Menschen selbst zu Wort kommen und spielen eine wichtige Rolle bei der politischen und staatsbürgerlichen Erziehung.

Das Nachrichtennetz Kayira ist durch die „Vereinigung Freies Radio yira“ entstanden und wurde am 7. Dezember 1991 gegründet. Diese Vereinigung versammelt Personen, die bei der Einführung der Demokratie in Mali eine zentrale Rolle gespielt haben und sich kompromißlos für kulturellen und politischen Pluralismus einsetzen. Das Netz besteht aus vier Sendeanlagen, davon drei ländlichen und einer in Bamako.

Radio Kayira – Kayira bedeutet Glück – wird auch das „Radio der Stimmlosen“ genannt. Das Konzept ist klar: von den Benachteiligten sprechen, die durch die Politik des brutalen Liberalismus ausgegrenzt, aus den Stadtvierteln vertrieben oder aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden; denjenigen eine Stimme geben, die sie gewöhnlich nicht haben oder von sich aus erheben.

Radio Kayira macht Informations- und Erziehungssendungen für Frauen, die in einer tief phallokratischen Gesellschaft oft Opfer des männlichen Chauvinismus sind, für Kinder und für Bauern, die es gegen die Übergriffe und den Machtmißbrauch der lokalen Behörden unterstützt. Es organisiert politische Diskussionen, bei denen lokale „Eliten“ kritisiert und Forderungen an die Regierenden formuliert werden, veranstaltet wirtschaftspolitische Diskussionen über die Rolle der westlichen multinationalen Unternehmen, in denen der ständige Eingriff in unsere Wirtschaft und die Wirtschaft Afrikas moniert wird.

Es gibt der Kultur Malis und Afrikas viel Platz. Bauern, junge Universitätsabsolventen und sogar gewählte Vertreter wünschen sich die Einrichtung einer Dependance von Kayira. Bis heute sind etwa zwanzig Anfragen formuliert worden, unter ihnen die der Städte Mopti, Gao, Kita, Bougoum. Mit der Hilfe des Radios sind Bauernkooperativen entstanden. In allen Städten – und manchmal auch außerhalb, wo es nicht empfangen werden kann – werden Unterstützervereine für das Radio der Stimmlosen gegründet. Es existieren etwa hundert Vereine in Koutiala, Koulikoro und in Segou.

Doch Radio Kayira erhält keinerlei staatliche Förderung, ja es arbeitet wegen der hohen Betriebskosten dauernd gegen sein Ende an. Und es kämpft gegen die Versuche der Regierung, es durch häufige Sendestörungen zu knebeln und zum Schweigen zu bringen – vor allem an Tagen, wenn politische Debatten oder Informationen über Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Machtmißbrauch gesendet werden. In ländlichen Gebieten gehen die Mitarbeiter von Radio Kayira regelmäßig in die Dörfer und machen Life-Reportagen über die Aktivitäten der Bauern und ihre Beziehungen zu den lokalen und nationalen Behörden.

Die Sichtweise der Landbevölkerung steht oft im Widerspruch zu den Konzepten der Machthabenden und ihrer westlichen Verbündeten. Dies hat bisweilen zu Konflikten zwischen dem Radio und den Behörden geführt. Radio Kayira – vor allem seine Station in Koutiala – hat es auch geschafft, willkürlich verhaftete Bauern den „Klauen“ der Justiz zu entreißen. Einige Verantwortliche des Senders leiten Abteilungen der Vereinigung Malis für die Menschenrechte, insbesondere in Koulikoro. Anders als einige Radios vor Ort weigert sich Kayira, ausländische Medien über Satellit zu senden.

Die politische Zukunft unseres Landes durch freie Wahlen und die Dezentralisierung stellen eine Herausforderung für die freien Radios dar. Sie werden eine bedeutende Rolle bei der Meinungsbildung spielen. Die gegenwärtigen Machthabenden und die Opposition sind sich dessen bewußt. Auf wirtschaftlicher Ebene werden die Reichtümer unseres Landes von Weltbank, IWF und unseren politischen Führern verschleudert. Die multinationalen Firmen haben den Zugriff auf Bodenschätze und den Boden. Obwohl die freien Radios Opfer dieser wirtschaftlichen Lage sind, können und müssen sie eine Rolle als Bewahrerin der Demokratie in all ihren Formen spielen. Die Zukunft des freien Rundfunks selbst hängt davon ab.

Oumar Mariko

Der Autor ist Arzt und Direktor des Nachrichtennetzes Kayira.