Charismatische Reisen ins Ich

■ Die ersten Konzerte von „Pro Musica Nova“ bewiesen: Neue Musik muß nicht kopflastig sein

Der Programmdirektor von Radio Bremen, Hermann Vinke, hatte in der Pressekonferenz zu „Pro Musica Nova“ zwar sehr richtig gesagt, daß die Förderung und Aufführung von zeitgenössischer Musik nicht von Publikumszahlen abhängig sein darf, aber nun braucht er sich derlei Gedanken nicht mehr zu machen: „Pro Musica Nova“ 1996 scheint in der Stadt voll angenommen zu sein, alt und jung strömt, das Lichthaus in Gröpelingen war am Nachmittag genau so gut besucht wie die Galerie Katrin Rabus am Abend. Die beiden ersten Konzerte brachten aufschlußreiche Aspekte der diesjährigen Thematik „zwischen Konstruktion und Intuition, Komposition und Improvisation“ zum Vorschein.

Daß immer mehr KomponistInnen und InterpretInnen auch improvisieren wollen, daß im Gegenzug immer mehr ImprovisateurInnen richtige Kompositionen schreiben wollen, ist ein auffälliger Trend in der gesamten neuen Musikszene. Die Kontrabassistin Joelle Léandre beispielsweise, die ihre Improvisationen auf eine derart persönliche und häufig witzige Weise bringt, daß man schon fast von einer Performance sprechen kann, träumt seit Jahren von ihrem jetzt im Lichthaus uraufgeführten Projekt. „Satiemental Journeys“ heißt es und bietet als eine Art innere Reise sieben MusikerInnen des ad hoc-Ensembles die Möglichkeit zu allerlei improvisatorischem Tun.

Immer wieder entstehen überraschende neue Kontexte, Gemeinsamkeiten und Widersprüche. Der Bezug auf Eric Satie im Titel ist nicht zu hören, er bezieht sich möglicherweise auf Saties systematisch betriebene Zertrümmerung des (bürgerlichen) Werkbegriffes. Das kompositorische Raster von Joelle Léandre – rhythmisch und harmonisch klare Abschnitte – hob die Einzelaktionen gut auf, insgesamt aber blieb das Ganze zu brav.

Was Interpreten-Charisma wirklich bedeutet, wurde in der Galerie Katrin Rabus im Vergleich zu vielen anderen eindrucksvoll deutlich durch den Auftritt von Rohan de Saram. Aber auch Michael Svoboda und – mit einem gewissen Abstand – Marianne Schröder ließen es an charismatischer Ausstrahlung nicht fehlen. Der Cellist, der Posaunist und die Pianistin hatten einen kurzweiligen Abend erarbeitet, der mit Werken von Jannis Xenakis und Giacinto Scelsi zunächst einmal die traditionellen Komponisten erfaßte, bei denen der Begriff Improvisation elementarer Bestandteil der Werkidee ist. „Kottos“ für Cello und „Keren“ für Posaune von Xenakis, „Ttai“ für Klavier von Scelsi fordern InterpretInnen aufs Äußerste, verlangen eine Spielweise, als seien die Werke in dem Augenblick erfunden.

Rohan de Saram „Kottos“ spielen zu sehen, ist nichts weniger als ein Ereignis, das von dem atemlosen Publikum mit minutenlangem Beifall belohnt wurde. Er spielt vollkommen von innen, scheint nicht etwas Fremdes auszuführen, sondern ist absolut identisch mit dem Klingenden. Die Härte des Rhythmus, die klangfarbliche Kraft der Doppelgriffe, die Differenziertheit der Stricharten auf der Basis einer enormen Präzision faszinieren bei diesem Cellisten immer wieder. Doch auch Michael Svoboda hat seine Meriten. Seine Spontaneität kam den irrwitzigen blastechnischen Anforderungen von „Keren“ zugute. Marianne Schroeder beeindruckte weniger durch Nuancierung des Anschlags, also eine Vielfalt der Klangfarben, als durch die großartige Disposition mehrminütiger crescendi und decrescendi. Dazwischen improvisierten die drei – am besten gelang die erste Einheit, mit der sie versuchten, einen gemeinsamen Ackord zu verändern, in Bewegung zu bringen.

Das war ungemein sensibel und klanglich spannend. Weniger funktionierten die Versuche der Interaktion. Trotzdem gelang es insgesamt, aus den Improvisationen und den Kompositionen eine nahezu bruchlose Einheit werden zu lassen. Mit Einschränkungen waren das zwei programmatische Konzerte, die die angebliche Kopflastigkeit der Neuen Musik Lügen straften. Ute Schalz-Laurenze