■ Prenzlauer Berg – gnadenlos hip , da ist was los
: Love Parade am 1. Mai

Schon nach dem 1. Mai im letzten Jahr hechelte auch diese Zeitung freudig erregt: „Im Osten viel Neues.“ Da „war was los“, da „konnte man schon melancholisch werden“, im Westen, in Kreuzberg vor allem, versteht sich. Prenzlauer Berg, Kollwitzplatz, „Kolli“ mittlerweile liebevoll gerufen – das ist gnadenlos hip. Touri-Busse durchkämmen die Gegend, und gelangweilte Münchener Germanistikstudenten machen sich im „Café Westphal“ breit.

Was sie hier suchen? Nichts Genaues weiß man nicht. Der Kollwitzplatz hat einen schönen Spielplatz, und der „Franz-Club“ soll schon zu Ostzeiten in gewesen sein, und, nicht zu vergessen, der Prenzlauer Berg hat eine für den Osten beachtliche Kneipendichte. Gewiß, es gibt tristere Orte in der Stadt, und der von 68er, 78er und 88er Generationskonflikten ermattete Zeitgenosse ist mittlerweile leicht zufriedenzustellen. Daß sich die „revolutionären“ Maifeierlichkeiten eben diesem Bezirk aufdrängen, hat insofern schon eine Logik. 1. Mai in Prenzlauer Berg – eine schöne Tradition, da sollte sich die Berliner Marketing GmbH doch überlegen, ob sich das nicht noch besser verkaufen läßt, ähnlich wie die Love Parade.

Nur hat die Sache einen Haken, sagen wir es jetzt mal so platt, wie es ist: Eine politische Tradition des Pflastersteinewerfens hat es hier nicht gegeben, und das war so schlecht nicht. Dafür reibt sich Kreuzberg jetzt die Hände, daß es diesen ganzen Schwachsinn los ist: den „Keine Befreiung ohne Revolution“-Unsinn, die anschließenden Räuber-und-Gendarm-Spielchen, die sicher folgenden Therapiesitzungen „Aufklärung über die Vorkommnisse in der Walpurgisnacht und am 1. Mai“. Da radelt man anschließend zufrieden heim in die beruhigten Westbezirke. Zurückbleiben wie immer bedepperte Ostmenschen – der nimmermüde Kollwitzplatz-Bewohner Wolfgang Thierse etwa, dessen ausgeklügelte „Miteinander reden“-Strategie schon wieder nicht griff, oder die enttäuschten Veranstalter der Walpurgisnacht. Als ob sie nicht gewußt hätten, daß auch ihre Festbesucher unmotiviert rumgelaufen sind und auf irgendwas gewartet haben und nebenbei auch noch eine ideale Deckung für die Genossen in Schwarz abgaben.

Für die Berliner Zeitung war es die „heißeste Nacht des Jahres“. O Mann! 1. Mai in Prenzlauer Berg – kotzlangweilig, schlimmer als der Vorbeimarsch der Werktätigen in seligen Zeiten. Hört die verzweifelte Frage, auch in eigener Sache gestellt: Warum hier, hier vor meinem Fenster? Andreas Lehmann

Freier Journalist, lebt in Berlin-Prenzlauer Berg