: Kulturverlust durch Umzug
■ Am Volkspark sind die St.-Pauli-Fans ihrer gewohnten Umgebung entrissen. Die Kneipentour nach dem Spiel muß deshalb warten. Ein etwas wehmütiger und leicht subjektiver Reise(ver)führer von Folke Havekost und Christoph Ruf
Derby-Zeit ist Volkspark-Zeit. Glaubt man Präsident Heinz Papa Weisener, haben die St.-Pauli-Fans gar nichts dagegen, am Sonntag zum „Heimspiel“ in das Stadion des Rivalen zu pilgern. Dazu paßt, daß der kulturelle Verlust für die Fans bisher weitgehend ignoriert wurde. Nach dem Abpfiff steht der gemeine St.-Pauli-Fan an der Schnittstelle von Bahrenfeld und Stellingen, wo großspurige Straßen und Industriekomplexe keinen Platz für gepflegte Bierhallen lassen, in denen das Gesehene angemessen nachbetrachtet werden könnte.
Wohin? fragt sich der Anhänger dann, gewohnt, vom Millerntor aus in allen Himmelsrichtungen eine reichliche Auswahl an Kneipen vorzufinden, deren Besuch er einzig für die 90 Minuten im Wilhelm-Koch-Stadion unterbricht. Der gesamte Tagesablauf ist aufs Empfindlichste gestört, denn der Heimspiel-Tag eines (Gegengeraden)-St.-Pauli-Fans fängt selbstverständlich nicht erst mit dem Anpfiff an.
Vor dem Spiel gilt es, dem Magen im Cocteau mit einem Frühstück (bis 15 Uhr) bei appetitanregenden Indie-Tönen eine Basis für den nachfolgenden Gerstensaftkonsum zu verschaffen und dabei die bereitliegenden Zeitungen nach den letzten Kampfreden Uli Maslos durchzustöbern. Auch nach dem Spiel ist der mit prächtigen gelben Wänden ausgestattete Laden, in dem die Nouvelle Bohème entgegen allen Gerüchten noch keinen Gauloises-Rauchzwang durchgesetzt hat, eine gute Adresse.
Wer seine Schnittchen lieber selbst zubereitet, ist im Etablissement Zum letzten Pfennig gut aufgehoben – vorausgesetzt er hat den Widerstand gegen den dort beliebten deutschen Schlager aufgegeben. Zwar öffnet der Pfennig eigentlich erst zwei Stunden vor den Spielen seine Pforten, doch am Sonntag ist ab 12 Uhr ein Frühschoppen mit gemeinsamer Abreise in den Volkspark vorgesehen. Das 0,33-Flaschenbier kostet zivile 300 bis 350 Pfennige – lobenswert und gewinnträchtig werden 100 Pfennig Pfand pro Flasche erhoben –, und für besonders ernüchternde Spiele steht „Bourbon Fusel“ für eine Mark im Regal. Konkurrenzlos ist die enge und überfüllte Kneipe durch ihren Flipperautomaten, zu dem man sich nach Heimspielen durch auf dem Fußweg stehende Massen vorkämpfen muß. Als echte FC-St.-Pauli-Kneipe mit entsprechenden Plakaten und Schals als Interieur existiert neben dem Pfennig nur noch Hermann, bei dem sich besonders gut Milieustudien am Auswärtsfan betreiben lassen.
Das Miller's und die Bar Centrale liefern den Gegensatz zum rustikalen Ambiente von Hermann oder dem Pfennig. Hierhin gesellt sich zum aprés match-Flensburger eher der ältere Bankangestellte, der während des Spiels bekanntlich in der Gegengerade einträchtig neben dem jugendlichen Punk aus der Hafenstraße gestanden hat.
Für die junge Garde bietet sich das Baldi an. Extrem günstiger Saurer (einzeln 99 Pfennig, im Zwölferpack für zehn Mark) und das australische Modebier Fosters macht die Kneipe zum Treffpunkt hipper Antifas. Gerade bei Niederlagen ist auch der Dschungel einen Abstecher wert. Dort überdröhnt Crossover-Mucke jegliches Lamentieren mit Dezibel-Zahlen, die in Punkte umgesetzt dem FC St. Pauli locker zur Serienmeisterschaft reichen würden.
Wer die Reeperbahn auch nach St.-Pauli-Spielen nicht missen möchte, geht ins Lehmitz, um dort Wartezeiten aufs Bier hinzunehmen, die denen bei der Einlaßkontrolle ins Stadion gleichen. Wiederholungstäter verschaffen sich Vorteile durch den großzügigen Einsatz von Trinkgeldern fürs notorisch unterbesetzte Personal.
Hat man die sündige Meile vielleicht sogar überquert, landet man im Gun Club, dessen erste Hälfte wegen eines Wasserschadens momentan leider nicht benutzbar ist. Der andere Teil besticht durch kommunikationsfördernd eng aneinandergereihte Tische, was den Makel des exorbitant teuren Sauren (abstinenzfördernde drei Mark) ein wenig ausgleicht. Dazu wird eine kräftige Hardcore-Punk-Mischung serviert.
Die bezüglich politischer Korrektheit „etwas andere“ Nordkurven-Klientel zieht es eher ins Seepferdchen, wo das Bier wie in guten alten Zeiten 2,30 Mark kostet und die Musikbox für zwei Mark gleich sieben Mal Hans Albers ausspuckt. Wer Alternativen anwählt, macht sich schnell unbeliebt, ebenso wie ein „St. Pauli gegen Rechts“-Aufnäher nach Meinung der Silbersack-Bedienung „provoziert“.
Sowohl für die Gegengerade als auch für die Nordkurve gilt jedoch, daß das bierselige Kulturprogramm dem Umzug morgen nicht zum Opfer fallen, sondern, wenn auch mit einiger Verzögerung, trotzdem stattfinden wird. Eigentlicher Verlierer der Stadionpolitik des FC St. Pauli wird somit das eigene Clubheim sein, das vor dem Weg in die breitgefächerte Kneipenlandschaft des Viertels üblicherweise gerne noch auf ein paar Biere aufgesucht wird. Dafür dürfte die Zeit am Sonntag nicht reichen. Aber die Fans haben ja nichts dagegen, und vielleicht schaut Papa Heinz ja auf ein halbes Holsten im Clubheim vorbei.
Cocteau (Wohlwillstr.), Hermann (Friedrichstr.), Zum letzten Pfennig (Clemens-Schultz-Str.), Miller's, Baldi (beide Detlev-Bremer-Str.), Dschungel (Schanzenstr.), Lehmitz (Reeperbahn), Gun Club (Hopfenstr.), Seepferdchen (Hein-Hoyer-Str.), Zum Silbersack (Silbersackstr.) und Clubheim (Heiligengeistfeld)
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