Berliner Balkone, politisch gesehen

■ Auf Balkonien tummelten sich Könige in Demut und Sozialisten mit Schneid

Der einzelne oben und die Masse unten – auf Balkonen wurde lange Zeit die Machtfrage gestellt und beantwortet. Sie waren die politischen Bühnen, auf denen sich die Herrscher darstellten und zu denen das Volk hinaufblicken mußte. Doch nicht immer stand dabei der Mächtige oben.

Natürlich hatte der mächtigste Mann im Staate Brandenburg auch als erster einen Balkon. Joachim II. ließ ihn am kurfürstlichen Schloß anbringen. Dokumentiert ist der erste Balkon 1592. Mehr als hundert Jahre lang war ein Berliner Balkon immer ein herrschaftlicher Balkon. Einen der ersten bürgerlichen Balkone vom Anfang des 18. Jahrhunderts kann man noch heute am Podewilschen Palais in der Klosterstraße sehen. Knapp dreihundert Jahre später gehören Balkone selbstverständlich zum sozialen Wohnungsbau. Der Souverän von heute schmückt ihn mit Zierblumen. Der lange Weg vom Huldigungs- und Paradebalkon zur bürgerlichen Freizeitfläche scheint längst vergessen.

1848 gab es in Deutschland Revolution, und erstmals machte ein Berliner Balkon Geschichte. Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, tritt am 19. März auf den Balkon an der Südseite des Hohenzollernschlosses. Er entblößt sein Haupt und verbeugt sich vor den Toten der Märzunruhen. Damit rettet er Kopf und Krone. Neu war, daß der Monarch den Balkon als Büßer betrat, scharf beobachtet vom Volk. Schon ein Jahr später waren es wieder die auf der Straße, die sich verneigten.

1918 gab es gleich zwei Balkone, die Geschichte schrieben. Am 9. November ruft der Mehrheitssozialist Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstags die Republik aus. Eine Stunde später verkündet Karl Liebknecht vom Lustgartenbalkon des kaiserlichen Schlosses die „Freie sozialistische Republik“. Zwar setzte sich Scheidemann mit seiner bürgerlichen Vorstellung von der Republik durch. Doch der Auftritt des Spartakisten Liebknecht auf dem Balkon des Portals IV, die rote Fahne an der Seite, ist dramatischer. Das Hohenzollernschloß war kein Ort für Proletarier. Auf dem gleichen Balkon hatte vier Jahre zuvor Kaiser Wilhelm II. eine vaterländische Rede zum Kriegsausbruch gehalten. Diesmal war der Kaiser endgültig vom Balkon gestoßen worden. Wer in Zukunft dort stehen würde, war noch nicht ausgemacht.

Viel spricht dafür, daß Adolf Hitler auch den Balkon als Ort der Machtdarstellung ruiniert hat. Mit dem Despoten ging das Stück politischer Architektur unter, das ihm als Podium bei Fackelzügen und Paraden gedient hatte. Der „Führerbalkon“ an der Neuen Reichskanzlei hatte zuvor die privaten Balkone vergesellschaftet und vereinnahmt. In den letzten Kriegsjahren kapitulierte der deutsche Balkon, indem er den Russen die weiße Fahne zeigte.

Seitdem wird er nur noch selten zu politischen Zwecken gebraucht. Aber ein Balkon taugt immerhin noch dazu, um mit einem Laken zu dokumentieren, daß man gegen Kernkraft ist oder Ché Guevara gut findet. Voraussetzung ist allerdings ein gnädiger Vermieter: Denn der Balkon ist Teil der Mietsache. Georg Oppermann