: Streusel im Blütenmeer
■ Berlins Balkonbesitzer: friedliche Trinker, voller Teilnahme. Beobachtungen aus einer Lichtenberger Sommerresidenz
Frau Schneidewind ist immer die erste, sagte meine Freundin Marion und reichte den Streuselkuchen rüber. Er war noch warm. Sein Duft vermischte sich eindrucksvoll mit den frisch gepflanzten Begonien, oder waren es Betunien? Sie ging jedenfalls noch einmal in die Küche, um den Kaffee zu holen, und kam zurück mit einer Kanne, wie ich sie seit dem Eulenspiegel vom März nicht mehr gesehen hatte. Meine beste Freundin und Zwiebelmuster? Ich war verwirrt. „Mein Balkongeschirr“, sagte sie lächelnd. „Ja, natürlich“, sagte ich Verständnis vortäuschend. Ich konnte da nicht mitreden, ich hatte keinen Balkon.
Marion schnitt den Streuselkuchen auf und fuhr fort, über Frau Schneidewind zu erzählen. Es könne Wetter sein, wie es wolle: jedes Jahr am letzten Märzwochenende greife die allein lebende Dame aus dem zweiten Stock als erste zu Handfeger und Kehrblech und bese über ihren Balkon. Mit dem teleskopstangenverlängerbaren Staubwedel aus der Fernsehwerbung attackiere sie ein paar magere Spinnenweben und setze dann alles kräftig unter Wasser. „Zuletzt nimmt sie sich immer Pinsel und Farbtopf, um ihren dunkelbraunen Klapptisch zu streichen.“ Dunkelbraun natürlich.
Den Tisch habe noch der „Babba“ gebaut, tönte plötzlich die Stimme Frau Schneidewinds zu uns herüber. Sie hatte uns trotz der frisch gepflanzten Blüten beim Streuselkuchen erspäht. Mit „Babba“ meinte sie ihren Gatten. „Gott sei seiner Seele gnädig“, fügte sie im schönsten Sächsisch noch hinzu. Gestrichen habe Babba den Tisch früher auch. Vermutlich dunkelbraun, entfuhr es meiner Freundin Marion, doch das konnte die Nachbarin nicht hören. Frau Schneidewind schüttelte einen Staublappen aus und tauchte hinter ihren Geranien unter.
Herr Behrend aus dem ersten Stock sagte einmal, daß sie, sobald das schöne Wetter losgehe, an ihrem Klapptisch immer Kreuzworträtsel löse und Gin trinke. „Manchmal schon vormittags. Und die Schneidewind weiß über alles Bescheid, was bis zur Weitlingstraße passiert.“ Die aufmerksame Nachbarin sei es auch gewesen, die im Sommer vergangenen Jahres die Polizei alarmierte, als Herr Behrend regungslos auf seinem Balkon lag. Daß ihn die Bullen morgens um vier aus dem Schlaf gerissen haben, nehme er bis heute übel. Herr Behrend hatte wegen der Hitze und des sternklaren Himmels einfach mal draußen übernachten wollen. Vielleicht auch wegen der Biere, die er zuvor mit einigen Kumpels geleert hatte, weil seine Frau auf Kur war, wie er sagte. Doch die Kumpels konnte niemand mehr befragen, die schliefen anderswo.
Sie liebe ihren Balkon über alles, sagte meine Freundin Marion und versuchte, mich fürs nächste Wochenende zu einem Malereinsatz zu überreden, als der Streuselkuchen aufgegessen war. Soviel Wind wie Frau Schneidewind würde sie mit dem Frühjahrsputz zwar nicht machen, aber sie freue sich darauf, draußen zu frühstücken oder ein Buch zu lesen. Selbst arbeiten könne man auf ihrem Balkon an der frischen Luft ganz vortrefflich und trotz ihrer kleinen Wohnung im Sommer immer noch einen Gast zusätzlich beherbergen. Garantiert ungestört, denn in ihren Balkon könne Frau Schneidewind nicht gucken, und Herr Behrend wohne ja im ersten Stock. „Ich stelle mir meine Palmen raus, wir trinken einen kleinen Martini und fühlen uns dann fast wie im Urlaub.“
Benno, ihr sechsjähriger Sohn, der die vortreffliche Tarnung sonst immer nutze, um seinen Kumpels, manchmal auch unbeteiligten Passanten, ein entschlossenes „Bayern ist beschissen!“ entgegenzuschleudern, sei bei den Großeltern. Er würde also auch keinen Versuch unternehmen, sich hier ein paar Wassereimer aufzustellen und den ganzen Tag friedlich wie ein Lamm mit selbstgebastelten Schiffchen zu planschen. Das müsse ich mir einmal vorstellen. Ich versuchte es und sagte Marion fürs nächste Wochenende zu. Am Montag allerdings werde ich es mal mit einer Annonce versuchen: „Suche Balkon in ruhiger Lage zur eigenen Bewirtschaftung. Dazugehörige Vierzimmerwohnung angenehm.“ Kathi Seefeld
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen