Brot für die Welt – die Wurst bleibt hier

■ Nichts für empfindliche Gemüter: Impressionen aus Münchener Wirtshaussälen

Auf geht's, aber nicht für empfindliche Gemüter. Denen ist von einem Aufenthalt in Münchener Wirtshaussälen nur abzuraten. Auch Magenkranke und überzeugte Vegetarier sollten einen weiten Bogen um bayerische Biertempel schlagen. Selten werden sie auf den Speisekarten Schonkost und fleischlose Gerichte finden. Auch moralisch sensiblen Menschen ist der Besuch politischer Veranstaltungen in den Bräuhaussälen an der Isar nicht zu empfehlen. Hier hängen zwar manchmal noch die Kruzifixe an den Wänden rum, aber die Sitten sind roh.

Ein norddeutscher Atomenergiekritiker referiert in einem großen Münchener Bräuhaussaal. Auf der Leinwand zeigt er schreckliche Bilder von strahlengeschädigten Kindern. Mit dramatischen Worten warnt er vor den Folgen von Unfällen in Atomreaktoren. Das Publikum lauscht gebannt und erschüttert den Worten des Experten vorn am Rednerpult. Völlig unberührt von dessen apokalyptischen Visionen und aufrüttelnden Bildern, zieht die hauseigene Kellnerinnenflotte ihre Kreise entlang der Tischreihen. Durch die Lautsprecher werden erschreckende Zahlen über den Anstieg der Krebstoten nach Tschernobyl genannt, während im Parkett laut Leberkäs' und Wammerl mit Knödel angepriesen werden. In Münchener Bräuhäusern ist der größte anzunehmende Unfall nun mal ein drastischer Rückgang des Bierumsatzes. Deshalb würden die Kellnerinnen selbst bei einem Festvortrag über die Gefahren des Alkoholmißbrauchs stoisch und artistisch wie immer die randgefüllten Weißbiergläser entlang der Biertische balancieren.

Ein anderes Mal referiert ein Professor der Sozialpädagogik über die Zunahme der Verarmung in der deutschen Bevölkerung. Es dauert nicht mehr lange, so seine Prognose, bis die ersten Menschen in diesem reichen Land verhungern müßten. Staunend hört das Wirtshauspublikum dem Referenten zu – und bestellt bei der Kellnerin einen g'scheiten Schweinsbraten. Mit sicht- und hörbarem Genuß wird dann der Braten verschlungen, während vorne der engagierte Professor eine trostlose Statistik nach der anderen über die Verelendung des Volkes zitiert.

Vor gar nicht langer Zeit forderte im Hofbräuhaus ein Politiker seine Parteifreunde sogar auf, sie sollten ihre Seidenhemden ausziehen. Man könne sich als Sozialdemokrat diesen Luxus angesichts der zunehmenden sozialen Not in Deutschland nicht mehr leisten. Während der Redner mit klagender Stimme Fakten über die Armut in der Stadt München präsentierte, erschallten in den hinteren Reihen des Saales unüberhörbar jene klassischen Münchener Kellnerinnenfragen, wer von den Gästen denn die Schweinswürstl mit Kraut bestellt habe, wo das Lüngerl serviert würde, wer noch a Moaß Bier bestellen möchte usw.

Dieses Lärmgewirr von Kellnerinnenfragen, Besteckklirren, Tellerscheppern und den Stimmen der Referenten auf dem Podium ist fester Bestandteil jeder politischen Veranstaltung in einem Münchener Bräuhaussaal. Nicht einmal die Prophezeiung des unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs würde den typischen Besucher dieser Veranstaltungen in den Wirtshäusern erschüttern können. Immer würde er dem Redner vorne applaudieren, wenn dieser Brot für die Welt fordert – solange nur der Wurstsalat in der Schwemme bleibt. Carl Wilhelm Macke