Von Holzwegen und Kunststücken

Das nördliche Mühlviertel ist ein vergessenes Stückchen Erde im Dreiländereck Österreich, Tschechien, Deutschland. Jetzt bandelt die randständige Region mit dem Fremdenverkehr an  ■ Von Günter Ermlich

„Meine Braut, die geht immer mit!“ schmunzelt Helmut Mitgutsch und drückt liebevoll auf den Auslöser seiner Spiegelreflexkamera. Er fängt ein Bündel von Sonnenstrahlen ein, das sich durch die hohen, dichtgedrängten Fichten des Böhmerwalds kämpft. Heute wandert er schon zum 49. Mal den Plöckensteinerseeweg. „Das erste Mal war bei der Grenzöffnung am 1. Juni 1990 durch den damaligen Landeshauptmann von Oberösterreich, Ratzenböck. Wir waren alle sehr neugierig, wie schaut's drüben aus, auf der anderen Seite vom Böhmerwald.“ „Drüben“, das war gut 40 Jahre militärisches Sperrgebiet der Tschechoslowakei.

Der nördlichste Teil Oberösterreichs, das Mühlviertel (nach den Flüssen Große und Kleine Mühl benannt), liegt im Dreiländereck von Tschechien, Österreich, Deutschland. Ein verlorenes Fleckchen Erde, seit 1947 der Eiserne Vorhang die Welt nach Norden hin abriegelte. Jetzt bandelt die randständige Region stärker mit dem Fremdenverkehr an. Im landschaftlichen Angebot: sanft gewellte Hügel, Streifenfluren (schmale, langgezogene Felder), naturnahe Wälder.

Die kargen Böden der Landwirtschaft (zwei Drittel sind Nebenerwerbsbauern) und einige kleinere und mittlere Gewerbebetriebe können die Leute vor Ort nicht ernähren. Auch Mitgutsch gehört zu den Pendlern. Tagein, tagaus fährt er im Schichtbus von Klaffer ins 80 Kilometer entfernte Linz, wo er seit 17 Jahren im Chemiewerk arbeitet. Das Mühlviertel ist zum Arbeitskräftereservoir für den Linzer Großraum geworden.

Tourismus, ja sicher, aber nicht um jeden Preis, versichert Karl Schiffner, der Vorsitzende des regionalen Tourismusverbandes. Kapitalgeber von außen, die den Tourismus nur wegen des Ertrags willen aufbauen, seien nicht willkommen. „Wir müssen schauen, daß die Tourismusentwicklung aus den eigenen Wurzeln kommt und die Bevölkerung selbst ein positives Erlebnis dabei hat“, doziert Schiffner. Er kennt die Leute aus dem Mühlviertel, die als Dickhäuter gelten. Aus voller Überzeugung rückständig, sind sie davor gefeit, modernen touristischen Schnickschnack mitzumachen.

Ein Paradebeispiel ist Josef Mühlbauer. Der knorrige Frühpensionär, als „Vater der Biotope“ zu einer festen lokalen Größe geworden, spricht lieber von „Tümpeln“. 20 wollte er in einem „Fünfjahresplan“ in den Wäldern rund um Peilstein anlegen; 32 sind es geworden, die er meist mit eigener Hand ausgegraben hat. Im Biotop Häuslin „sind wieder die Molche zurück“, erzählt Mühlbauer stolz, und im Biotop in der Hofwies hat sich das Teichhuhn angesiedelt. Aber nur 6 Tümpel sind für die Touristen zugänglich, und „16 werden nicht veröffentlicht“, sagt Mühlbauer kategorisch, „da bleibt Natur Natur“.

Von der touristischen Kirchturmpolitik zur Tourismusgemeinschaft: Neun Gemeinden zwischen Klaffer und Kollerschlag, von der Regionalberatungsagentur ÖAR professionell begleitet, setzen mit ihren touristischen Angeboten auf die „Wanderregion Böhmerwald“. Sie haben ein Netz von Gemeinde- und Weitwanderwegen ausgebaut und es einheitlich beschildert; die „Böhmerwaldwerkstatt“, eine Initiative von Langzeitarbeitslosen, fertigte die Wegschilder. Selbstverständlich aus Holz.

Der bekannteste Weg ist der Plöckensteinerseeweg. Grenzkontrollpunkt 1/10. „Nachbarn als Freunde“ steht auf dem runden Granitstein, der hier im Dreiländereck aus Oberösterreich, Bayern und Tschechien ein Zeichen setzen soll. Mitgutsch wünscht nickend „Dobri den“, worauf die zwei jungen Zöllner vor der Baracke den Gruß erwidern. Viel haben sie nicht zu tun, letztes Jahr gab es nur 5.000 Grenzübertritte. 1990 wollten noch 37.000 Menschen ihre Grenzerfahrung machen. Die meisten waren Einheimische, vertriebene Böhmerwalddeutsche, die ihre alte Heimat im heutigen Tschechien wiedersehen wollten.

15 Minuten landeinwärts, auf der asphaltierten Straße, früher exklusiv von den ČSSR-Grenztruppen genutzt. Mitgutsch zeigt auf die Waldschneise, wo vorher der Grenzzaun aus Stacheldraht den Böhmerwald entzweite. „Viele wissen darüber doch schon heute nichts mehr, in 20 Jahren ist das endgültig verwachsen.“ Mitgutsch ist ein wanderndes Archiv. Ein Stichwort genügt, und Heimatforscher „Heli“, wie er im Dorf nur heißt, springt sofort an. Die Rinne rechts des Weges? Das sei ein ehemaliger Zubringer des 1824 fertiggestellten, 44 Kilometer langen Schwarzenberger Schwemmkanals. Im Winter wurden die im Böhmerwald geschlägerten Holzstämme mit Pferden und Schlitten zum Kanal transportiert. Und im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, flößten bis zu 1.400 Menschen die Baumstämme mit Schwemmhaken weiter. Eine Knochenarbeit. Dabei mußte die Wasserscheide von der Moldau zur Donau durch Steilstufen und einen 400 Meter langen Tunnel überwunden werden. Seinerzeit war der Kanal eine technische Meisterleistung: 1961 hatte er ausgedient. Touristiker Schiffner hofft, daß der Schwarzenberg-Schwemmkanal in einem tschechisch-österreichisch- deutschen Gemeinschaftsprojekt „revitalisiert“ und der Treidelweg für den Radtourismus nutzbar gemacht wird.

Schon seltsam, daß Adalbert Stifter den Kanal völlig ignorierte. Der literarische Hausherr der Gegend, 1805 im südböhmischen Horni Plana (Oberplan) geboren, machte mit seiner 1842 veröffentlichten Novelle „Der Hochwald“ den Böhmerwald (bis dato nur Holzhackern, Schmugglern, Pechbrennern und Köhlern vorbehalten) für den Fremdenverkehr salonfähig. An der literarischen Qualität seiner Romane und Erzählungen scheiden sich bis heute die Geister: Während Friedrich Hebbel Stifters Werk als „Sperrmüll der deutschen Literaturgeschichte“ verspottete, pries Thomas Mann ihn als einen der „wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur“. Den Fremdenverkehrswerbern ist er schlicht eine identitätstiftende Figur. Wanderwege, Denkmäler, Quellen, ein Museum, Gasthöfe ... alles Stifter.

Wir erreichen den Plöckensteiner See, von einer steilen Felswand begrenzt. Kein Wirtshaus, keine Imbißbude, nur ein kleiner Rastplatz mit wenigen Holzbänken. Wann wird man diesen „schönen, schwarzen Zaubersee“ (Stifter) wohl infrastrukturell aufpeppen? Was Mitgutsch zu erzählen vergißt, stand schon November 1990 in den Mühlviertel Nachrichten: Der See sei „ökologisch tot“, das Gewässer derart mit Schwermetallen belastet, daß weder Fische noch andere Kleintiere darin leben könnten.

An die 300 Höhenmeter muß man vom Seespiegel auf einem steilen Steig zur Aussichtsplattform hochkraxeln. Unterhalb des Plöckenstein-Gipfels auf 1.379 Meter, der die österreichisch- tschechische Grenze markiert, thront ein baumhoher Granitobelisk: „Dem Dichter des Hochwald. Errichtet 1876–77“. An seiner Basis lagern die „Qualmenden Socken“, WanderfreundInnen des Sauerländischen Gebirgsvereins, und ergötzen sich am freien Blick hinunter zum See, über die verstreuten Dörfer am Lipno-Stausee hinweg, über die Höhenzüge des Böhmerwalds.

Svejda, ganz in Grün, ist zufrieden, denn die „Qualmenden Socken“ haben ihren Picknickmüll brav mitgenommen. Der junge Mann ist einer von 20 Rangern, die im tschechischen Nationalpark Sumava nach dem Rechten sehen. Im Sommer kämen bis zu 500 Touristen täglich hier herauf, gibt er in gebrochenem Deutsch zu verstehen. Doch ganz in der Nähe, ausgerechnet in der besonders geschützten „Zone 1“ des 1991 gegründeten Nationalparks, droht Kahlschlag. Die Bürgermeister von Horni Plana und Nova Peć planten mit einem Skilift, erzählt Svejda, die grenzübergreifende Vernetzung des Skigebiets am Hochficht. Die Bergstation der österreichischen Vierersesselbahn sei nur 50 Meter entfernt.

Sie erstand vor zwei Jahren unter 50prozentiger Beteiligung des Stifts Schlägl, des geistigen und wirtschaftlichen Zentrums des Oberen Mühlviertels. Wie alle regionalen Fremdenverkehrsstrategen predigt auch der weltgewandte Abt Martin Felhofer den „sogenannten sanften Tourismus“. Er fordert den autofreien „sanften Übergang nach Böhmen“, damit das stille Mühlviertel „nicht von Transitlawinen überfallen“ werde. Bei jeglicher Tourismusplanung hat das Stift als größter Waldbesitzer der Region (6.500 Hektar) ein wichtiges Wörtchen mitzureden. Abt Felhofers Gelöbnis: „Ein autofreier Wald.“ Fußgänger seien herzlich willkommen, Radfahrer sollten kanalisiert werden. Mit 180 Mitarbeitern ist das Prämonstratenser-Stift der größte Arbeitgeber weit und breit. Wirtschaftliches Standbein ist der Forstbetrieb, dazu kommt ein eigenes Wasserkraftwerk, eine Tischlerei, Gaststätten, ein modernes Seminarzentrum mit 37 Betten für kirchliche wie weltliche Häupter. Und die einzige Stiftsbrauerei Österreichs. Sie befriedigt durstige Seelen.

„Rückständige“ Gebiete wie das Mühlviertel sind oft Rückzugsorte für künstlerisches Treiben. „Bildhauerort“ steht unter der Ortstafel von Schwarzenberg. Ein Hort der Holzkunst. Unterhalb der Dorfkirche ballen sich auf dem Abhang die Holzskulpturen. Arbeiten des Holzhauersymposions „Grenzgänger“ von 1992, als 66 Künstler aus 17 Ländern zwei Wochen lang auf der Dorfwiese gemeinsam ihre Motorsägen kreischen ließen und aus Baumstämmen Kunstobjekte formten. Anfangs hätten viele Einheimische das ungewöhnliche Spektakel noch hinter geschlossenen Vorhängen mit Skepsis beäugt, später hätten einige gar Urlaub genommen, erzählt Mitorganisator Horst Bernhard schmunzelnd. Bernhard selbst hat einen Sinneswandel durchgemacht: vom Chemiker im Labor einer Darmstädter Pharmafirma zum freischaffenden Künstler mit eigenem Atelier in Schwarzenberg.

Die „Werkstatt Kollerschlag“ arbeitet vor allem im Auftrag von Galerien, Museen und der öffentlichen Hand. Wo früher im Tante- Emma-Laden der Eltern Lebensmittel über die Theke gingen, verhandeln die drei Baumüller- Brothers (Kaufmann, Künstler, Werbefachmann) heute internationale Kunst. „Die Ideen von Künstlern, die wir in Form von Zeichnungen oder Modellen kriegen, realisieren wir zusammen mit Handwerksbetrieben aus dem Mühlviertel und Umkreis, also Schlossern, Steinmetzen, Glasern und Tischlern“, erzählt Kaufmann Wolfgang Baumüller. Starwerke sind der „Hammering Man“ von Borovsky, finanziert vom Erbauer des Frankfurter Messeturms. Und „Puppy“, das 12 Meter hohe, mit Blumen drapierte Hundegeschöpf von Jeff Koons, das in Arolsen – parallel zur Kasseler documenta 1993 – für Furore sorgte.

Bei soviel Kunst in der Provinz will auch Heimatforscher Mitgutsch nicht zurückstehen. Drei pralle Ordner hat er über Stifter gesammelt, „von der Wiege bis zur Bahre“. Noch dieses Jahr will er eine Fotoausstellung über ihn machen. In einer Fleckerlteppichweberei in Schönberg, „weil der Stifter ja auch von einer Weberfamilie abstammt“.

Infos: Tourismusgemeinschaft

Böhmerwald, Marktplatz 6,

4160 Aigen, Österreich,

Tel.: (0043) 7281/441