Die Schönheit des Einzeltones

■ Hans Ottes „Stundenbuch“ beim Festival „Pro Musica Nova“ uraufgeführt

Schon in einem seiner ersten Stücke verweigert Hans Otte sich den Grundkategorien abendländischer Musik: denen von Kontrast und Konflikt. In dem 1959 geschriebenen Klavierstück „tropismen“ entfalten sich unterschiedliche Figuren aus einem Zentralton, Figuren, die den Farbwert eines Einzelklanges unabhängig von Zusammenhängen betonen. Mit seiner neuesten Komposition führt Otte diese Konzentration der Klänge mit äußerster Konsequenz fort. Ottes „Stundenbuch“, ein Klavierstück und eine Klanginstallation umfassend, wurde bei seiner Uraufführung im Rahmen der „Pro Musica Nova“ mit viel Beifall aufgenommen. Das Neue-Musik-Festival von Radio Bremen widmete Otte, Gründer der „Nova“, am Wochenende mehrere Veranstaltungen.

Besonders die Uraufführung des „Stundenbuchs“ im RB-Sendesaal machte die unermüdliche Suche Ottes nach Reduktion und klanglicher Intensität deutlich. Im „Buch der Klänge“, 1982 ebenfalls für Klavier geschrieben, wies Otte noch metrische Vorgaben aus; der jeweilige Charakter der einzelnen Stücke war noch in Ansätzen vorgegeben. Im neuen „Stundenbuch“ hingegen finden sich die aufführungspraktischen Anweisungen ebenso reduziert wie die Musik selbst.

„Die Möglichkeiten des Klaviers sind noch längst nicht ausgereizt“, hatte Otte im Interview gesagt. Im „Stundenbuch“ allerdings spürt er weniger originellen Klängen nach – dieses Werk klingt nach Suche, nach neuem Anfang. Otte gibt hier den Einzeltönen – mit ihren Obertönen und ihrem Nachhall – einen unendlichen Raum, er reiht sie meist im pianissimo aneinander. Selten wird die Bewegung heftiger, selten gibt es Zwei- und Dreistimmiges und niemals Virtuosität. Ob Melodie entsteht, bleibt den HörerInnen überlassen: Die Töne und Klänge liegen so weit auseinander, daß sie eine Anbindung an ihr Vorher und Nachher nicht brauchen. Wenn man will, kann man sie allerdings übers Hören herstellen.

„Stundenbuch“ hat Otte sein Werk genannt, in Anlehnung an die mönchischen Stundengebete. Es stellt zusammen mit Texten „weiser Männer und Frauen, von einst und jetzt, aus Ost und West“ (Otte) und Tuschzeichnungen des Komponisten ein Gesamtwerk dar, das aus einem fünfjährigen Schaffensprozeß resultiert.

Das abendliche Orgelkonzert in der Kirche Unser Lieben Frauen bot dann noch einmal andere Aspekte von Ottes Schaffen. Mit „touches“ (Berührungen) von 1965 zeigt Otte unterschiedliche, schnell wechselnde Klanggesten, deren Farben immer neue Nuancen entwickeln. Formale Orientierungen gibt es nicht, so daß viele Klänge einfach deswegen an Reiz verlieren, weil sie beliebig wirken. Noch heterogener erscheint „Sounds“, konsequenter allerdings in dem Ansatz, etwaige Hörerwartungen zu unterlaufen. Dazu helfen auch die vom Organisten zitierten Begriffe, die eine zentrale Rolle im Denken von John Cage gespielt haben wie zum Beispiel „acceptance“, „emptiness“, „independance“, „togetherness“ und dergleichen mehr.

Gerd Zacher war der exzellente Organist des Abends, dessen Geburtstag ebenfalls gefeiert wurde, nämlich über die Komposition „Biographie“ von Hans Otte. Geschrieben zu Zachers 50. Geburtstag, zitiert der Organist Werke, die er uraufgeführt hat – eine Erinnerungsarbeit. Und die Werke sind zahllos, von Olivier Messiaen bis Hans Joachim Hespos, von György Ligeti bis Terry Riley. Einen ganzen Abschnitt neuerer Musikgeschichte hörte man da.

So sehr Otte auf der Qualität des geschichtslosen Augenblicks besteht, so sehr gibt es gerade in seinen Klanginstallationen auch Bezüge zu Vergangenheit und Geschichte. In der Installation „Namenklang“ im Neuen Museum Weserburg, ebenfalls am Wochenende eröffnet, ist dies deutlich zu spüren. Komponisten, die Ottes musikalische Suche über die Jahrzehnte begleiteten, sind hier über megaphonartige Lautsprecher zu hören – nicht mit musikalischen Beispielen, sondern mit ihren Namen, die selbst zu Klang, zu Musik werden. Ute Schalz-Laurenze