■ Přibor feiert den Begründer der Psychoanalyse: Geteilter Freud ist doppelter Freud
Jedes Jubiläum der gleiche Streit: Zum 140. Geburtstag seines berühmten Sohnes erwartet das Städtchen Přibor bei Ostrava heute einen Besucherstrom. Dabei ist weiter unklar, ob der Sohn wirklich Geburtstag hat und ob er überhaupt so heißt, wie die Welt ihn kennt: Sigmund Freud.
Der Zwist ist 65 Jahre alt. Als Freuds Geburtshaus 1931 mit einer Marmorplakette geschmückt werden sollte, reklamierte das örtliche Standesamt, im Geburtsregister von 1856 stünde der 6. März, nicht der 6. Mai. Und er hieße auch gar nicht „Sigmund“, sondern amtlich „Schlomo Sigismund“. Das mährische Přibor besaß nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts ein typisches kleinbürgerlich-jüdisches Milieu, und deswegen hatte Vater Kallamon Jakob Freud dem Standesbeamten „den 1. Tag des Monats Ijar 5616“ als Geburtsdatum angegeben – im Gregorianischen Kalender der 6. Mai. Hat sich der Stadtschreiber damals verrechnet, als er den 6. März eintrug? Oder flunkerte Jakob Freud, da Anfang März seine Ehe erst sieben Monate alt war und das Kind demzufolge eine frühe Freudsche Fehlleistung gewesen wäre?
Verworren waren auch die Familienverhältnisse der Freuds, die bis 1859 zu viert in einem kleinen Zimmer in der Freiberger Schlossergasse 17 lebten: Vater Jakob Freud, der bei der Geburt von Schlomo Sigismund bereits 40 Jahre alt war, hatte schon zwei erwachsene Söhne aus einer früheren Ehe: Emanuel, 1832, und Philipp, 1836 geboren. Sigismunds Mutter Amalie war mit ihren 20 Jahren dagegen jünger als ihre Stiefsöhne, die in der Nähe lebten. Damit war sein Vater alt genug, um sein Großvater, seine Mutter jung genug, um seine Schwester zu sein. Und als sein Stiefbruder Emanuel einen Sohn bekam, wurde Sigismund im Alter von einem Jahr Onkel. Und dann gab es noch eine gewisse Rebekka, mit der Jakob laut katholischem Kirchenregister von 1852 auch noch verheiratet gewesen sein soll.
Wie so vieles bei Freud ist die Sache also ziemlich kompliziert. Dagegen scheint ungewöhnlich einfach, warum er nicht als „Schlomo Sigismund“ in die Geschichte eingegangen ist: Um der Verwechslung mit einem namensgleichen Verwandten vorzubeugen, änderte der Student Freud seinen Namen in „Sigmund“.
Obwohl Freud drei seiner, wie er später schrieb, „folgenreichsten Jahre“ in der Schlossergasse verbrachte, sahnt sein späterer Wohnort Wien sämtlichen Ruhm ab. Dem Magistrat des im strukturschwachen Nordmähren gelegenen Přibor kommt daher der wieder aufgebrochene – werbewirksame – Streit gerade recht. Zum 150. Geburtstag 2006 plant die Stadt jetzt gleich zwei Freud-Feste: am 6. Mai und am 6. März. Den meisten der neuntausend Bewohnern von Přibor ist der Begründer der Psychoanalyse allerdings herzlich egal. Daß die Schlossergasse in Freudstraße umbenannt wurde, sieht man gerade noch ein. Daß auch der Marktplatz mittlerweile seinen Namen an den Vater aller Couchen verlor, ist man zu tolerieren ebenfalls bereit. Doch auf das „Freud-Zentrum“, das am 6. März 2006 an der Autobahn Olmütz– Krakau in Höhe von Přibor eröffnet werden soll, könne man ebenso verzichten wie auf die Sonderbriefmarke mit Ersttagsstempel 6. Mai 2006. „Wir wollen keinen Kafka“, ertönt es einhellig in den fünfzehn Kneipen des Ortes.
Aus dem Rathaus verlautet auf diese Dialektik der Basis lediglich lakonisch, das Doppelfest sei wichtig für den Fremdenverkehr, und folgerichtig sei es auch. Denn – bei allem Respekt, den man vor dem Mann haben muß – eine gespaltene Persönlichkeit sei Sigmund Freud doch immer schon gewesen. Wolfgang Jung
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