Die Kunst, Wände sprechen zu lassen

Die Kunst in den banalen Erscheinungen der Alltagswelt zu suchen, gehört seit den ersten Tagen der Fotografie zu deren bevorzugten Aufgaben. Als Meilenstein gilt bis heute Alfred Renger-Patzschs Bildband „Die Dinge“: Hier werden Kanalrohre, Kathedralen und Schuhleisten auf ihre Geheimnisse befragt und – in grafisch vollendeter Delikatesse – als Gleichnisse der prachtvoll schillernden, modernen Welt ausgedeutet. Solche Bedeutungslast müssen die Dinge nun freilich nicht mehr tragen. Aber der Reiz des im Alltag Verborgenen juckt die Fotografen bis heute. Der in der Nähe Berlins lebende Thomas Anschütz hat diesen Blick aufs Detail kultiviert wie nur wenige Künstler im deutschsprachigen Raum. Seine spezielle Sichtweise auf die Dinge ist jetzt in einer Ausstellung in der Galerie im Bremer Atelierhof zu erleben.

Architektonische Details gehören zu den bevorzugten Motiven in Anschütz' Mikrokosmos. Das gilt für seine Fotos wie für seine Malerei. Der Blick fällt allerdings auf Ecken, die der Architekt selbst kaum als Schauseite empfehlen würde. Bruchkanten und blätternder Putz – für Anschütz genau richtig. Denn hier lassen Licht und Schatten, auf vielfältige Weise gebrochen, ganz neue Räume, neue Architekturen entstehen. In der Großaufnahme, dem übrigen Kontext enthoben, werden schmale Schatten zu tiefen Schluchten und helle Flächen zu Wüstenlandschaften.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Anschütz' Architekturen aus Licht und Schatten sind höchst ambivalente Gebilde. Sie entziehen sich einer einzigen, genau bestimmten Deutung – zugunsten eines lebendigen Wechselspiels, bei dem Licht und Schatten, Negativ- und Positivform, Raum und Fläche, Figur und Grund munter die Rollen wechseln. Und der Betrachter seine Ansichten.

Makroaufnahmen, in denen Sandkörner zu Juwelen werden, kennt man aus den zuständigen Fotomagazinen natürlich zur Genüge. Aber Anschütz arbeitet anders. Was er aus den Kleinigkeiten des Alltags herausholt, sind nicht die pittoresken Effekte. Seine Bilder besitzen eine formale Strenge, die sie nicht eben leicht zugänglich machen – und die sich kaum als Illustriertenfutter eignet. An den ursprünglichen Gegenstand erinnert hier nichts mehr. So kommt der Betrachter auch gar nicht erst in Versuchung, über das Motiv herumzurätseln. Aus dem Baustoff Licht und Schatten entstehen hier neue Gedankengebäude, die der Alltagswelt, die sie inspiriert hat, weit entrückt sind. Thomas Wolff

Bis 12.5., Atelierhof in der Alexanderstr. 9b, geöffnet Di-Fr von 15-19 Uhr