■ Anthropologie
: Töten im Krieg

Wie gut, daß jetzt ein Buch erschienen ist, in dem Wissenschaftler der verschiedenen Fachrichtungen das „Töten im Krieg“ nicht als Normalität behandeln, sondern als ein befremdliches, erklärungsbedürftiges Faktum. Sie bringen Eibl-Eibesfelds Feststellung in Erinnerung, daß das Töten von Angehörigen der eigenen Spezies eine Eigenheit des Menschen und etwas Pathologisches ist, die ihn von Tieren unterscheidet. Er hat zum Zwecke der Kriegführung einen besonderen Mechanismus eingesetzt, der seine natürliche Tötungshemmung ausschaltet. Dieser Mechanismus wird in der Anthropologie „Pseudospeziation“ genannt: Er bewirkt, daß die feindliche Menschengruppe so definiert wird, als gehöre sie einer anderen Spezies an.

Keineswegs handelt es sich dabei um einen Atavismus: Bis heute tut dieser Mechanismus seine Wirkung, auch auf der Seite des fernsehenden Publikums – mit der Folge, daß die Toten der scheinbar fremden Spezies nicht gezählt und nicht betrauert werden und derjenige, als seltsamer Einzelgänger ausgegrenzt wird, der diese Spezifizierung nicht mitmacht.

Wenn man den Kampf gegen diese Flucht der Menschheit nicht aufgeben will, so kann man Hoffnungen in die Bloßlegung der sexuellen Komponente des Martialischen setzen. Der Kriegsgeist verträgt es nicht, wenn seine Primitivität demaskiert wird – und das geschieht in dem neuen Buch. „Manche Primaten zeigen ihren erigierten und leuchtend bunten Penis dann, wenn die Gruppe angegriffen wird. Es scheint ziemlich klar, daß die Erregung in diesem Fall kein sexuelles Motiv hat – die Weibchen sind weit weg –, sondern vielmehr in Dominanzmotivation begründet ist“, heißt es, und der Autor begründet auch die Kürbisfutterale für den Penis als eine „kulturell bewerkstelligte quasi ,gefrorene‘ Dominanzerektion“. Dieses Motiv ist dem Publikum zwar wohlbekannt – wer würde es verkennen in den schräg nach oben zeigenden Kanonenrohren der russischen Panzer? –, und der Vergleich löst, besonders auf männlicher Seite, bereits Überdrußreaktionen aus.

Trotzdem sind die kriegverhindernden Möglichkeiten, die in der sexuellen Demaskierung des Martialischen liegen, noch nicht annähernd ausgeschöpft. Diese Aufgabe liegt außerhalb der anthropologischen Forschung und fällt dem Feminismus zu. Trotz der offensichtlich männlichen Komponente gibt es aber dennoch Anlaß, die kulturelle Beteiligung der Frauen an den kriegerischen Vorgängen einmal zu untersuchen. In allen Mythen sind ihre auf Krieg zielenden Energien doch mit Händen zu greifen.

Was dem Buch fehlt, ist eine Untersuchung der juristischen Behandlung der Frage „Töten im Krieg“. Tatsächlich wird sie von der Jurisprudenz sorgfältig umgangen. Nirgends wird gesetzlich statuiert, daß im Krieg die Paragraphen 211, 212 des Strafgesetzbuches nicht gelten sollen, und auch die kommentierende Literatur macht sich über die Rechtfertigung kriegerischer Tötungshandlungen keine Gedanken. Man hält es offenbar in stillschweigendem Einvernehmen für klug, die Frage zu ignorieren.Sibylle Tönnies

Heinrich von Stietencron, Jörg Rüpke (Hrsg), „Töten im Krieg. Der basisdemokratische Diskurs und die Idee der Repräsentation“. Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1995. 496 Seiten, 128 DM