Es bleibt alles in der Familie

Einst war Madhav Rao Scindia hochgeachteter indischer Minister. Dann stolperte er über einen Korruptionsskandal. Nun hat er seine eigene Partei. In seiner Heimatprovinz ist er eine Vaterfigur  ■ Aus Gwalior Bernard Imhasly

Zuerst kommt Sohn Jyotiraditya, pausbäckig wie sein Vater, die Stufen des Palastes herunter, läßt sich mit den ersten Girlanden des Tages bekränzen und fährt am Steuer seines „Gypsy“ in einer Staubwolke davon, zu seiner ersten Wahlkampfveranstaltung. Dann steigt die Gemahlin aus dem Lift, königlich bescheiden in ihrem rosa Chiffon-Sari, nimmt die Huldigung einiger Parteiaktivistinnen entgegen und steigt in den Fonds des eleganteren „Suzuki Esteem“. Endlich tritt „Maharaj“ aus der Flügeltür, und man weiß sofort, warum er zwei Stunden verspätet ist: Für die paar Treppenstufen zum Auto braucht er fünfzehn Minuten – er nimmt Einladungen für Wahlveranstaltungen entgegen. Ein Bauer, der vier Stunden aus seinem Dorf gekommen ist, umfaßt die zur Begrüßung gefalteten Hände und verneigt sich. Madhav Rao Scindia gibt letzte Instruktionen an seine Mitarbeiter, er begrüßt bekannte Gesichter, bis er endlich in seinem Gefährt ist – einem alten „Ambassador“, dem klassischen Auto des indischen Politikers. Auf der anderen Seite des Parks, vor dem viel kleineren „Rani Mahal“-Palast – er hat nur achtzig Zimmer – ist inzwischen „Rajmata“, die Königinmutter, in ihren „Contessa“ gestiegen, hinter den niedlichen Vorhängen verschwunden und unter Polizeischutz davongefahren – unbeachtet vom Hofstaat ihres Sohnes.

„Nur der Enkel bleibt zu Hause“, sagt Scindia, als er vorne neben dem Chauffeur Platz nimmt und die Lamellen der Frischluftzufuhr ausrichtet. „Er ist erst zwei Jahre alt“, und wer will schon die Leute daran erinnern, daß man mit fünfzig bereits Großvater ist. „Zudem“, lacht er, „gibt er mir nicht einmal seine Stimme.“

Die richtigen Wähler schälen sich an diesem schwülen Vormittag allmählich aus dem Dunst der ausgedörrten Landschaft heraus. Alle paar Kilometer steht eine Gruppe von Bauern, in den Händen ein paar Schalen aus Baumblättern mit Rohzucker und Kokosstücken, die welkenden Girlanden auf einer Stange aufgehängt. Das Auto bremst ab, Scindia rollt das Fenster herunter, faltet die Hände zum indischen Gruß und läßt sich mit Girlanden bekränzen. Wenn sein Nacken überquillt, nimmt er sie ab und reicht sie einem der Helfer aus dem Begleitauto. Dieser wirft sie einfach auf den Kofferrost über dem Dach des Ambassador, und noch vor Mittag gleicht dieser einem süß riechenden Abfallhügel.

Madhav Rao Scindia ist auf Wahlkampftour. Vier Veranstaltungen sind heute geplant, bevor er am Abend in Datia im Haus seines Jagirdars übernachten wird. „Jagirdar“ läßt sich als „Lehensmann“ übersetzen – Kleinadel, der von Scindias Vorfahren für seine Stammestreue mit Ländereien versorgt worden ist. Diese sind inzwischen längst verstaatlicht oder unter die Pächter verteilt worden, und die Gefolgsleute sind nun Fotografen, Fabrik-Manager oder Klein-Touristik-Unternehmer, die den übriggebliebenen Palast als Maharadscha-Hotel zu vermarkten suchen. Auch sie gehören zur Familie, und jetzt, wo „His Highness“ sie braucht, schließen sie die Ränge um ihn. Sie haben sich im Palast eingerichtet und organisieren Scindias Wahlkampf – K.G. Sharma, der in Delhi PR-Manager einer Fluglinie ist, Mr. Phalke, der in Gwalior eine Finanzgesellschaft leitet, Dr. Saxena, der Biologielehrer. Alle haben unbezahlte Ferien genommen.

Die Sonne steht an diesem Tag wie eine flache blasse Scheibe am Himmel, denn inzwischen hat ein Sandsturm die weite Ebene südlich von Gwalior in eine blinde Landschaft verwandelt. Das hält Gwalior nicht davon ab, die aufsteigende Sonne hinter den Bergzacken ins Zentrum seiner Rede zu stellen. Scindia heißt hier nur „Gwalior“, und es ist diese Identität von Person, Familie und Staat, die er nach Kräften ausmalt. „Gwalior ist in Delhi entehrt worden!“ ruft er in die Menge. „Ich bitte euch nicht um eure Stimme. Ihr habt die Pflicht zu stimmen, um eure Ehre wiederherzustellen.“ Nichts weist darauf hin, daß die Leute fünf Stunden auf ihn gewartet haben. Sie hören ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu, die Männer auf dem Straßenboden sitzend, die Augen zugekniffen, um sich vor dem Sand zu schützen; die Frauen auf den Dächern der Lehmhäuser, den Sari um das Gesicht gewickelt.

Für die meisten von ihnen ist es gar keine Frage, daß die Korruptionsvorwürfe gegen den Exminister haltlos sind. „Jeder Politiker bekommt Spenden“, sagt der Bauer Gyasi Lal, „aber das heißt doch nicht, daß sich Maharaj bestechen läßt. Nicht diese Familie, die hat es doch gar nicht nötig.“ Auch Lal hatte bedächtig geklatscht, als Scindias Vorredner die Anklage der Bestechung mit Draupadi verglich, der von den mythischen Bösewichtern des „Mahabharata“- Epos geschändeten Frau, und Scindia mit Krishna, der Draupadi rettet. Und damit die vielen Analphabeten unter den Zuhörern bei der Wahl ihren Daumenabdruck nicht neben das Kongreß-Symbol der offenen Hand setzen, hebt Scindia ein hölzernes Schild empor, mit der aufsteigenden Sonne: „Hier, dieser Berg ist Pichor! ruft er und führt seine Hand vom Bild auf den Hügel über den Zuhörern. Er hat seine Designer-Sonnenbrille abgelegt, trotz der Böen, die den Sand hochwirbeln. Er kümmert sich nicht um den Lärm des Traktormotors, der hinter dem Zelt die dünne Lautsprecheranlage antreibt und übertönt, und auch nicht um das wilde Flattern des Zeltdachs über seinem Kopf. Für einen Augenblick stellt er tatsächlich die elementare Identität einer Familie her, die auch die ärmsten Bauern einschließt, „die Schwestern und Brüder“, wie er sie anspricht.

Trotz seiner Bitterkeit ist Scindia entspannt. Seine Gegner werfen ihm zwar vor, daß er neben den klassischen Vorzeigeprojekten wie Bahnhof, Stadion, Flughafen wenig für seinen Wahlkreis getan hat. Und Sardar Jadhav, ein Jagirdar seines Vaters, sieht in Scindias Geiz ein mögliches Motiv für die Schmiergelder. Aber er war als Eisenbahn-, Tourismus-, Zivilluftfahrtminister hochgeachtet, nur wenn man ihn über die Probleme der Bauern befragt, wird er einsilbig. Aber das scheint seiner Popularität keinen Abbruch zu tun. Zudem ist praktisch die ganze Kongreß-Organisation zu ihm übergelaufen. Und was die Wahl für Scindia zu einer beschlossenen Sache für die Bauern macht, ist die Tatsache, daß die mit der Kongreßpartei rivalisierende oppositionelle Bharatiya Janata Party (BJP) ihren Kandidaten zurückgezogen hat. Dies ist das Thema, das selbst in Pichor eifrig diskutiert wird. Denn auch hier geht es, wie überall in der Gwalior-Politik, um Familienaffären. „Rajmata“ Vijayraje Scindia, die am Morgen durch den Hintereingang davongefahren ist, ist Präsidiumsmitglied der BJP, und sie kandidiert, unterstützt von Tochter Yashodara, im benachbarten Wahlkreis von Guna, auch dies ein Teil des ehemaligen Gwalior, eines Staates so groß wie die Schweiz.

Der Streit zwischen Mutter und Sohn ist ebenso berühmt wie dessen zwei Protagonisten. Seit fünfzehn Jahren haben sie sich nicht mehr gesprochen, sie haben sich gegenseitig mit Gerichtsklagen wegen der großen Ländereien überzogen. Erst der Hawala-Korruptionsskandal scheint das Eis gebrochen zu haben. Der Zufall wollte es, daß die Mutter zur gleichen Zeit wegen Herzbeschwerden ins Spital von Gwalior eingeliefert wurde. Madhav Rao Scindia besuchte sie, und als er vor wenigen Wochen seinen Austritt aus der Kongreßpartei bekanntgab, beglückwünschte sie ihn öffentlich und verband damit die Hoffnung, daß der verlorene Sohn bald einmal nach Hause finden würde.

„Meine Mutter hat die schlechte Gewohnheit, Politik und Familie zu verwechseln“, sagt Scindia ohne Wimpernzucken. Erst als er auf das eigene Familienunternehmen angesprochen wird, in dem er Frau und Sohn für den Wahlkampf einspannt, relativiert er seine Aussage. „Es geht nicht um die Familienzugehörigkeit, es ist eine Frage der Ideologie. Meine besteht aus zwei Grundsätzen: die nationale Integrität und der Säkularismus. Beide gehören zusammen: Ohne Respekt aller Religionen ist die Einheit Indiens gefährdet. Vorläufig sehe ich kein Anzeichen, daß die BJP mit ihrer Hindu-Ideologie dies eingesehen hat.“

Nicht alle sind von Scindias Klarstellung überzeugt. Im Kongreß-Hauptquartier von Gwalior, in dem bis vor einer Woche noch Scindia-Bilder hingen, sind nur noch die Urahnen Nehru und Gandhi präsent. Die Büros sind leer. Der Kongreß-Kandidat ruhe sich aus, sagt der Türwächter vieldeutig. Die paar Studenten, die sich nach einiger Zeit einfinden, geben sich trotzig siegessicher, aber sie haben bereits eine Begründung für die kommende Niederlage parat: „Die BJP und Scindia stecken unter einer Decke – warten Sie bis nach den Wahlen, seine Partei wird sich mit der BJP verschmelzen, und Mutter und Sohn sind wieder zusammen.“