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15 Quadratmeter Geschichte

Als Soldat mit Kamera zog Jewgeni Chaldej in den Zweiten Weltkrieg und wurde berühmt. Heute lebt er in einer Welt aus Erinnerungen  ■ Aus Moskau Bernd Siegler

Was heißt hier Verspätung? Hast du aus Tolstoi vorgelesen“, Krieg und Frieden, oder was hast du gemacht?“ Der alte Mann ist ungehalten, nestelt am Telefonhörer herum, rückt seine Brille mit den dicken, verschmierten Gläsern zurecht und flucht. Der Mann hat zu tun. Kaum liegt der Hörer auf der Gabel, klingelt der alte Apparat schon wieder. Ein Fernsehteam bittet um ein Treffen, dann kündigt sich eine amerikanische Journalistin an. Mühsam, das Papier direkt vor den Augen, kritzelt der Mann all die Termine auf einen verschlissenen Briefumschlag.

Er wohnt im 6. Stock in einer winzigen unscheinbaren Wohnung im Nordwesten Moskaus, an der Ausfallstraße nach St. Petersburg. Nur noch selten wirft er einen Blick auf die gegenüberliegenden Plattenbauten, seinen kleinen Balkon hat er lange nicht mehr betreten. Sein Leben spielt sich in einem 15 Quadratmeter großen Zimmer ab. Es ist zugleich Wohn- und Schlafzimmer, Dunkelkammer, Archiv und Telefonzentrale: das Reich von Jewgeni Chaldej.

Vier „Leitz Focumat“-Vergrößerer stehen auf einer Tischplatte, daneben ein Schrank aus Karteikästen, randvoll mit Negativen und Abzügen. An der Längsseite die Dunkelkammereinrichtung, gegenüber die Couch und mitten im Raum das Nachtkästchen mit dem Telefon. Der 78jährige Fotograf ist gefragt. Seine Bilder gingen um die Welt: das Foto mit der roten Fahne auf dem brennenden Reichstag in Berlin, Bilder von Göring und Heß bei den Nürnberger Prozessen oder Stalin und Churchill in Potsdam.

Chaldej wuchs bei seiner Großmutter auf, bei seiner „Babuschka“, wie er sie liebevoll mit lang gedehnten Vokalen und ganz weichen Konsonanten nennt. Seine Mutter wurde bei einem antijüdischen Pogrom erschossen. Sie trug den kleinen Jewgeni auf ihrem Arm. Das Geschoß durchschlug ihren Rücken und streifte noch das Baby. „Das war das einzige Mal, daß ich verwundet wurde“, sagt Chaldej. Die Großmutter wollte unbedingt, daß ihr Jewgeni einmal ein großer Musiker wird. Jedesmal wenn er ihr das jüdische Lied „Die Wehklage Israels“ auf der Geige vorgespielt hatte, drückte sie ihm fünf Kopeken für ein Eis in die Hand. Doch ein Leben lang im Orchestergraben, das konnte sich der Junge nicht vorstellen. „Ich wollte lieber Fotos machen“, erinnert er sich. Ihn faszinierte, daß man mit einem Fotoapparat Augenblicke festhalten konnte, die schon längst vorbei waren.

Seine „Babuschka“ kaufte ihm die erste Kamera

Der kleine Jewgeni bastelte sich aus den Brillengläsern seiner Großmutter und einem Karton einen eigenen Fotoapparat. Später kaufte ihm seine „Babuschka“ für 1.200 Rubel den ersten Apparat, eine russische Leica der Marke FED aus Charkow. „Ich habe den ganzen Krieg mit ihr durchlebt, das ist eine sehr gute Kamera.“ Er nimmt sie in die Hand, prüft, ob der Auslöser noch funktioniert, pustet ein Staubkorn von der Linse und streicht zärtlich über das Kameragehäuse. Dann hängt er sie wieder an die Wand: zu dem U-Boot-Modell, das ihm Matrosen der Schwarzmeerflotte geschenkt haben, zu den Andenken und Anhängern aus zahlreichen Städten und zu dem Bild, das den Oberbefehlshaber der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg zeigt. Marschall Schukow, an dessen Reiterdenkmal beim Roten Platz Kriegsveteranen noch immer Blumen niederlegen, hat es für seinen „Freund Chaldej“ signiert.

Als 20jähriger arbeitete Chaldej für die Nachrichtenagentur TASS. In deren Büro bekam er mit, daß Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte. Dieser 21. Juni 1941 wurde für ihn zum Beginn einer beispiellosen Fotografen-Karriere. Vom Fenster seines Büros aus sah er die Leute auf der Straße, wie sie gebannt auf die für 12 Uhr angekündigte Ansprache von Außenminister Molotow warteten. „Alle dachten, was ist jetzt los? Man hat unsere Städte bombardiert. Das war schrecklich.“ Chaldej fotografierte.

Sieben Tage später schickte die TASS ihren Mann nach Murmansk. Chaldej bat seinen Vorgesetzten um 100 Meter Film. Der entgegnete ihm: „Warum willst du denn so viel haben, in zwei Wochen ist der Krieg schon beendet.“ Aus den zwei Wochen wurden 1.148 Tage. Drei Jahre war Chaldej mit seiner FED-Leica unterwegs, 30.000 Kilometer durch Europa, bevor er am 24. Juni 1945 die Siegesparade auf dem Roten Platz aufs Zelluloid bannen konnte.

Chaldej verstand sich nicht als Dokumentarist, sondern als Soldat mit Kamera im „großen vaterländischen Krieg“. Er fuhr auf den Marineschiffen mit und reichte den Matrosen die Geschosse, steckte Häuser von KZ-Kommandanten in Brand und riß Juden nach der Befreiung die Judensterne von der Kleidung. „Ich war als aktiver Kämpfer im Krieg“, betont er – und ist sich nicht klar darüber, daß er sich damit wesentlich von seinen Fotografenkollegen unterscheidet.

Chaldej setzte die verbrannte Erde von Murmansk ins Bild, den Panzerkreuzer „Woroschilow“ in Sewastopol, die Befreiung von Belgrad, im Januar 1945 Budapest, dann Wien – im Mittelpunkt standen für ihn immer die Menschen. Nach dem Krieg hielt er Kontakt zu den Hauptdarstellern seiner Fotos. Denn Darsteller sind sie, Chaldej spürte sie auf, um mit ihnen seine Fotos zu inszenieren: den Soldaten, der in Belgrad jubelnd die Arme hochreißt, den Rotarmisten, der die Flagge auf dem Reichstag hält, oder die Soldateska, die in Küstrin den Verkehr regelt. „Ich wollte wissen und zeigen, wie sich ihr Leben weiter gestaltet hat. Das ist oft sehr traurig, denn sie leben von einer kleinen Rente oder bekommen gar nichts.“

Nach der Befreiung Wiens wurde Chaldej nach Berlin beordert. Einen Tag vor dem Abflug nahm er von der TASS ein paar rote Tischtücher mit nach Hause. Die brachte er seinem Freund Israel Israelitsch Tjeschitzer, einem Schneider. Die ganze Nacht nähten die beiden drei Flaggen und versahen sie mit Hammer, Sichel und fünfzackigem Stern. Die erste Fahne hißte Chaldej am 1. Mai auf dem Tempelhofer Flughafen, die zweite am nächsten Morgen um sieben auf dem Brandenburger Tor und die dritte eine Stunde später auf dem Dach des brennenden Reichstags. „Das hätte Hitler wohl nicht gedacht, daß ein Jude diese Flagge näht und ein zweiter Jude sie dann auf dem Reichstag hißt!“

Lange suchte er damals auf dem Dach des Reichstags nach der richtigen Komposition. „Es waren viele Fotografen und Flaggen auf dem Reichstag, aber mein Foto erwies sich im Laufe der Zeit doch als das beste“, meint er stolz. Seinen jüngsten Orden bekam Chaldej letztes Jahr vom französischen Kulturminister auf dem Festival des Internationalen Fotojournalismus in Perpignon – vor der Kulisse seines überdimensionalen Reichstagsfotos. Orden hat Chaldej viele. Sie lagern in den Schubladen des Tisches, auf dem die Vergrößerer stehen: das goldene Abzeichen der DDR, die Medaillen für Murmansk, die Auszeichnung für seine Teilnahme am vaterländischen Krieg. Orden wie diese gab es viele in der Sowjetunion. Für Chaldej haben sie ihren Wert behalten: „Es tut weh, daß das niemanden mehr interessiert, aber ich habe die Orden damals verdient.“

Mit Genugtuung verfolgte Chaldej nach Kriegsende die Verhandlung der Siegermächte über die Zukunft Deutschlands und vor allem das Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. Er fotografierte, wie Jodel und Göring, die einst Mächtigen des NS-Regimes, jetzt in den Kellerräumen des Nürnberger Justizpalastes ihre kargen Mahlzeiten aus Deckeln eines Soldatengeschirrs löffeln mußten.

Obwohl hoch dekoriert, brachen nach dem Krieg schwere Zeiten an für Chaldej. Der Antisemitismus keimte in Gestalt des Antizionismus wieder auf. Stalin versuchte sich damit seiner Widersacher und potentiellen Konkurrenten zu entledigen. Ohne Angaben von Gründen wurde auch Chaldej 1948 entlassen: Chaldej war Jude. Erst nach Jahren konnte er wieder normal arbeiten. Doch diese Erfahrung kann seine Hochachtung vor Stalin nicht trüben. Niemand anderes als Stalin habe schließlich die Deutschen besiegt, die in Donezk Chaldejs Vater und seine drei Schwestern zusammen mit 70.000 Juden lebend in einen 800 Meter tiefen Kohleschacht geworfen hatten – und das allein zähle für ihn.

Später wurde Chaldej rehabilitiert, fotografierte für die Prawda und porträtierte für Kulturzeitschriften den Dimitri Schostakowitsch, Gina Lollobrigida und immer wieder den Literaten Konstantin Michailow Simonow, seinen besten Freund. Er streicht über das letzte Foto von Simonow. „Für mich ist das immer sehr traurig, wenn Leute zu mir sagen, du schaffst doch mit deinen Fotos Ewigkeit. Die Bilder bleiben, aber die Menschen vergehen.“

Gedankenverloren bleibt er sitzen und seufzt. Was den kleinen Jungen fasziniert hat, muß den alten Mann traurig machen: Den Augenblick kann er zwar mit seinen Fotos festhalten, die Menschen aber nicht. Kaum einer aus seiner Generation ist noch übrig. Seine Frau Swetlana starb vor zehn Jahren. Jetzt steht ihr Schwarzweißfoto wie eine Ikone auf einem Regal in einer Ecke des Zimmers, davor ein Jungfrau-Maria-Bild und ein Schokoladennikolaus. Seitdem wohnt Chaldej allein.

Allein fühlt er sich auch in dem Rußland von heute. Vieles bleibt ihm unverständlich. Kopfschüttelnd schenkt er sich ein Wasserglas voll Wodka ein und leert es in einem Zug. „Das hilft für und gegen alles.“ Die Perestroika kam für seine Begriffe zu schnell. Die stundenlangen Debatten in der Duma hält er für „unnützes Geschwätz“. Früher, ja früher! Bei der Erinnerung an die großen Mai-Paraden gerät er ins Schwärmen. Flugs sind alle Widrigkeiten, auch seine eigene Verfolgung, beiseite gewischt. „Die Leute kamen alle auf dem Roten Platz zusammen, es war eine sehr schöne Stimmung. Sie tanzten, alle waren fröhlich. Das hat man liquidiert“.

Noch heute vergrößert Chaldej seine Fotos selbst

Ob er sich als Kommunist verstehe? „Nein, nein“, wehrt er mit beiden Händen ab. Er sei gar nichts, einfach neutral: „Aber unser Rußland hat keine Zukunft mehr.“ Das Weißbrot koste jetzt schon 2.500 Rubel. „Ich kann mir das leisten, viele Leute jedoch nicht“, empört sich Chaldej. Er verdient mit seinen Fotos, Interviews und Auftritten so viel dazu, daß er nicht von der zu niedrigen Rente leben muß.

Noch heute vergrößert Chaldej seine Fotos selbst. Da fällt es ihm gar nicht auf, wenn der schwarze Vorhang auch tagsüber zugezogen bleibt und er keinen Blick nach draußen geworfen hat. Nur noch selten geht er vor die Tür. Seine Beine machen das nicht mehr mit, und auf dem einen Auge ist er fast erblindet. Und er will sie auch gar nicht mehr sehen, die langen Reihen von Verkaufsständen überall, mit denen die Arbeiter ihren in Naturalien ausgezahlten Lohn wieder zu Geld zu machen versuchen. Oder die Reklame an den Straßen, die für Produkte wirbt, die sich kaum jemand leisten kann.

Aber wenn er dann doch einmal unter den Menschen auf der Straße ist, scherzt er mit Verkäuferinnen oder trinkt an einem der vielen Bierstände ein Marmeladenglas voller Bier, so daß es ihm das Kinn herunterrinnt. Und dann geht er zurück in die Sicherheit seines Zimmers, in die Welt aus Erinnerungen, Fotos und melancholischen jüdisch-russischen Schlagern. Am besten gefällt ihm das Lied über einen alten Schneider mit dem Refrain: „Es gab eine Zeit, da hatte ich noch Kräfte, aber das ist schon lange her. Die Jahre haben meine Haare spärlicher werden lassen und meinen Mantel ausgefranst. Die Sonne geht am Ende des Tages unter. Der neue Tag kommt, und ich bin nicht mehr da.“

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