Grundlos intensiv

■ Die Reihe "Wilde Herzen" startet heute ihre vierte Staffel mit dem Inzuchtdrama "Kinder der Nacht" (20.15 Uhr, ARD)

Meret und David können eigentlich glücklich sein. Sie, eine erfolgreiche Wissenschaftlerin, hat keinen Grund zur Unzufriedenheit. Er, ein Restaurator, liebt sie wie nichts sonst auf der Welt. Sie liebt ihn auch, gibt aber zu, dies nicht immer mit ganzem Herzen zu tun.

Bliebe das Drehbuch hier stecken und beließe es für den Rest der anderthalb Stunden bei milden Gefühlsakzenten wie Eifersucht und sonstigen Beziehungsproblemen, wäre „Kinder der Nacht“ nie für würdig befunden worden, Teil der Reihe „Wilde Herzen“ zu werden. Also müssen Abgründe her, menschliche Verstrickungen, die böse Ursachen haben, ungewöhnliche Schicksale und heftige Händel um Weib und Mann.

In dem Film, der heute abend zum Auftakt der vierten Staffel der „Wilde Herzen“-Reihe gezeigt wird, bleibt es also nicht dabei, daß Meret und David einfach so nach Überwindung einiger niedriger Hürden doch noch ihr Happy-End finden. Nein, denn bei ihrer Hochzeit taucht Boris auf, der Bruder der Braut, von dem der Bräutigam wiederum nie zuvor etwas erfuhr. Sollte er auch nicht, denn die Unperson hat mit seiner Schwester Schande getrieben, manche nennen es Inzucht.

So nimmt die Geschichte ihren vorhersehbaren Lauf. Schon die Kamera deutet gleich während der ersten Filmsekunden an, daß Unheil im Schwange ist: verwischte Aufnahmen bei einer Kamerafahrt durch Schilfdickicht, über den Bootssteg und durch das Unterholz der Villa, in der die Geschwister aufwuchsen.

Weiteres erfährt der Zuschauer nicht. Statt dessen sehen wir, daß Meret und Boris noch immer nicht voneinander lassen können. Sie wirken so intim, so grob und nah zugleich, daß einem unwillkürlich einfällt, daß es sich um eine Hommage an eine Leidenschaft handeln muß, die im Laufe der letzten 25 Jahre etwas aus der Mode gekommen ist: Männer und Frauen haben sich – so der Konsens über das, was Ehe ausmachen sollte – schließlich stets und ständig zu verstehen beziehungsweise Verständnis füreinander aufzubringen – was bekanntlich nicht ohne die Zähmung des Mannes funktionieren konnte.

Boris ist allerdings nicht dressierbar. Die Geschwister schlafen wieder miteinander, reden so, wie es nur Liebende tun, weisen sich zurück, um sich gleich darauf wieder zu suchen. Das ahnt der eigentliche Ehemann nicht einmal, das kann er sich wahrscheinlich auch gar nicht vorstellen, daß soviel Leben in einer Liebe stecken kann. Schön auch, daß nicht der Bruder allein für das Wiederaufflammen der alten Leidenschaft verantwortlich ist, denn sie macht mit, sehr sogar.

Am Ende kommt es zum großen Finale auf dem See – nach einer Abtreibung, nach Entdeckung und Verzweiflung. Dazwischen viel nacktes Fleisch, sinnliche Blicke, böse Gesten und Geschrei. Der Bräutigam, was soll's, es sei hier verraten, stirbt, die Geschwister schwimmen ans Ufer zurück und hoffen, daß niemand ihre zweite Schande bemerken werde – Abspann.

Ein keineswegs langweiliger Film, den Regisseurin Nina Grosse da nach einem Drehbuch von Harald Göckeritz gefertigt hat. Schöne Bilder, sinnvolle Dialoge, wunderbare Schauspieler (Natalie Wörner, Herbert Knaup, Matthias Paul), gutes Timing, exzellenter Aufbau bis zum Ende, keine überflüssigen Ratschläge über Sitte und Anstand. Trotzdem wird die Geschichte nicht richtig schlüssig. Ist es denn so abwegig, mal eine Erklärung dafür zu bekommen, weshalb Bruder und Schwester einander verfallen? Weshalb werden deren Eltern so konturlos, fast blaß und desinteressiert gezeigt, so daß niemand begreifen kann, was an denen so seltsam ist?

Möglich allerdings auch, daß dies gar nicht beabsichtigt war: „Wilde Herzen“ werden sicher nicht um Aufnahme in die Sesamstraße bitten. Allerdings hätte man gerne etwas mehr erfahren über das Vorleben der Geschwister. Haben sie Angst vor anderen Liebespartnern? Mögen sie sich nicht anfreunden mit einer einvernehmlichen Vorstellung von Sex & Freundschaft? So kommen die „Kinder der Nacht“ dann doch ein wenig manieriert daher, als eine Mischung aus „Fatal Attraction“ und „Unsere besten Jahre“ – das säuert insgesamt eine Spur zu sehr nach.

Daß allerdings das Stück sehbarer ist als das Gros der privaten TV-Produktionen, muß indes gesagt werden, handwerklich gesehen ist nicht viel zu tadeln. Weitere sieben Folgen sind bis 5. Juni zu sehen, darunter auch ein Udo-Lindenberg-Film anläßlich dessen 50. Geburtstag. Um 23 Uhr wiederholt die ARD heute aus der gleichen Reihe – auf ausdrücklichen Zuschauerwunsch, wie es heißt – den Film „Ausgerechnet Zoé“. Nicolette Krebitz spielt darin sehr beeindruckend ein HIV-infiziertes Mädchen. Jan Feddersen