Das Ich tritt aus

■ Der italienische „Progetto arte“-Künstler Michelangelo Pistoletto legt seine Installation im unterirdischen Kunstbau des Münchner Lenbachhauses groß an

Man spiegelt sich bei Michelangelo Pistoletto. Man tritt ein in den Spiegel neben zwei Figuren, die eine rote Fahne schwenken. Man entdeckt seine Beine im halbhohen „Käfig-Spiegel“ und sieht dahinter den bunten Kleiderhaufen der „Guardaroba“.

Der Eintritt ins Bild soll der Eintritt ins Leben sein: „Die Welt, die wir im Spiegel sehen, ist hinter unserem Rücken. Man muß sich nur umdrehen und in diese Richtung weitergehen.“

So spiegelt man sich neben der „Etrusker“-Figur von 1976 und sieht hinter sich den langgestreckten Ausstellungsraum des Münchner Kunstbaus, wo Pistoletto sein Werk mit einer großangelegten Installation in Szene gesetzt hat.

„Progetto arte“ nennt er Anfang der siebziger Jahre sein neues künstlerisches Ziel, eine „Projekt- Kunst“, über die sich der Besucher an einem Tisch informieren kann. Der Künstler sei der „Sponsor des Denkens“, ist da zu lesen. Sponsor für ein umfassendes System der menschlichen Betätigungsfelder, für einen „Neuen Begriff der Klassik“, eine Zivilisation des Gleichgewichts und der Proportionen.

Der Konzeptkünstler Pistoletto hat den Kunstbau mit Gitternetzen unterteilt: glitzernde, durchsichtige Trennelemente öffnen Nischen, in die er Werke aus dreißig Jahren gestellt hat. Gitter werden zu „Spiegeln“, an denen die Begriffe angebracht sind, deren „Gleichgewicht“ jetzt interessiert: Gespräch und Politik, Markt und Religion, Architektur und Design, Benehmen und Kleidung. In Gang gebracht hat der 63jährige Italiener sein Kunst- und Gesellschaftsprojekt bereits mit Tagungen und Veranstaltungen, so auch mit Theaterprojekten im Münchner Marstall.

Die gemalte Figur verselbständigt sich

Die Kunst im Konzept aufzuheben – die Konsequenz der Concept-art der sechziger Jahre – das lag Pistoletto fern von Beginn an. Denn seine Arbeitsweise nahm ihren Ausgang von einem incidente, einem Zufall, der ihn 1961 bei der Arbeit an einem Selbstporträt überraschte. Die gemalte Figur schien sich zu verselbständigen, der Hintergrund wurde zu einem Spiegel, der den Realraum in das Bild aufnahm.

Eine neue Zeitlichkeit und Körperlichkeit des Bildes trat so hervor, die Pistoletto zur „Arte povera“ führten, zu den „armen“ Materialien der „Lumpenvenuß“ von 1967, zu den Theateraktionen der Jahre 1967/68. Zugleich aber ist für Pistoletto der Spiegel Medium der Spiritualität, bis hin zu einer Arbeit wie dem „Kubikmeter Unendlichkeit“ von 1966. Die sechs Spiegelflächen, zusammengeschnürt zu einem Würfel, machen die unendlichen Reflexionen im Innern nur noch vorstellbar.

Was sich im Spiegel integrieren ließ, die Sinnlichkeit des Kunstwerks und dessen Geistigkeit, will Pistoletto jetzt in einer „Progetto arte“ zusammenbringen, und so soll die Münchner Ausstellung beides sein: programmatische Installation und Retrospektive, Konzeption einer Projektkunst und Werkschau.

Am einen Ende der langen, schmalen Ausstellungshalle steht die „Etrusker“-Skulptur, die mit der Hand den Spiegel berührt, am anderen Ende die „Lumpenvenuß“. Zwei Werke, mit denen auf jeweils eigene Weise zu gelingen scheint, was der Projektausstellung nicht gelingen kann: die anschauliche Konvergenz von Materiellem und Geistigem, von Sinnlichkeit und Sinn. „Wer bist du?“ fragen am Eingang die Schriftzeichen eines murmelnden Monitors. Rechts erscheint ein fast schon realistisch großes Foto mit den Menschen auf der Berliner Mauer. Eine Zeitlang geht und steht man neben dem Künstler selbst, dessen Gestalt als fotorealistische Figur auf einen Spiegel geklebt ist. Pistoletto wollte in den Spiegel eindringen, sich jener Konvergenzlinie nähern, auf der sich Raum und Zeit verflechten zu einer Vierdimensionalität.

Seine Spiegel-Bilder sind symptomatisch für eine Kunst, die sich in den sechziger Jahren neue Ästhetiken des Raums und der Situation erschloß. Seine „Arte povera“-Arbeiten wie das „Lumpenorchester“ oder die „Guardaroba“ konkretisieren diese ästhetische Entwicklung. In einer Poesie der Dinge, die mit leiblichen und psychischen Energien aufgeladen sind. Doch das Spiegel-Bild wurde ihm auch zur Tür, zum Durchblick auf eine Welt jenseits der Entfremdung zwischen Technologie und Alltag.

„Memoria Intelligentia Praevidentia“ heißt die Münchner Ausstellung: Erkennen, Erinnern, Vorausschauen als Basis für eine „globale Zivilisation“, in der Pistoletto auch die „Wiederherstellung der Verbindung von Kunst und Macht“ möglich scheint. So wird der „Philosoph des Spiegels“ zum Geschichtsphilosophen.

Die ästhetische Energie verräumlicht sich

Der Theoretiker Pistoletto, der seine Entwicklung stets mit Texten begleitet hat, spürt gleichzeitig den Verflechtungen des ästhetischen Diskurses nach, seinen untergründigen moralischen Aspekten, den kognitiven Elementen einer veränderten Ästhetik.

Doch aus Verbindungslinien und Berührungspunkten ist das Begriffsgehäuse einer „Projekt- Kunst“ geworden: Metallgitter, an denen die Begriffe hängen, die sich auch seitenverkehrt lesen lassen; Denkräume, die sich ins Unendliche verknüpfen sollen; eine gedankliche Architektur des Gleichgewichts, wo statt dessen allein schiefe Ebenen möglich scheinen, und Zwischenräume, in denen es zu punktuellen Verbindungen und Übergängen kommt.

So wie am Ende der Ausstellung, wenn sich die ästhetischen Energien verräumlichen. Denn der letzte „Käfig-Spiegel“ ist zusammengeklappt, läßt keine Spiegelungen mehr zu, verweist auf den Umraum: auf die „Minus-Objekte“ der „Galerien“-Serie, die verkehrten oder geknickten Bilder, die zusammengerollten Leinwände, die an der Wand gegenüber auf großen Fotos wiederkehren – zerknittert, sich wölbend, dahängend.

Pistoletto hat diese Fotos einfach „Bilder“ genannt. Schmutzfarbene Leinwände, die zu Kunstobjekten werden, andersartig, wie zum Leben erweckt. So schließt sich der Raum am Ende zu einer Szenerie der schwebenden Bedeutungen zusammen, schließt die „Lumpenvenuß“ mit ein.

Und der Hinweis auf Wissenschaft und Philosophie oben am Gitter bleibt außen vor. Reiner Bader

Kunstbau des Münchner Lenbachhauses, bis 23. Juni; Katalog 40DM