Für das Weiterleben bestraft

Wenn Kinkel heute Washington besucht, muß er mit den letzten jüdischen Überlebenden der deutschen KZs in Osteuropa reden  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Jahrelang lief Alexander Bergmann der Bundesregierung hinterher. Jetzt will er ihr einmal voraus sein. Morgen, am 8. Mai – 51 Jahre nach der deutschen Kapitulation – kommt der deutsche Außenminister Klaus Kinkel zur Jahresversammlung des „American Jewish Committee“ (AJC) in Washington, um eine Rede über die „deutsch-jüdischen Beziehungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ zu halten. Alexander Bergmann ist ein paar Tage früher angereist, um auf einem Symposium des AJC von der deutsch-jüdischen Vergangenheit und Gegenwart zu erzählen.

Alexander Bergmann überlebte vier Jahre Nazi-Terror – angefangen vom „Blutsonntag“ im Ghetto von Riga, als 25.000 lettische Juden ermordet wurden, bis zum Transport ins KZ Buchenwald. Heute, mit 71 Jahren, kämpft er „als einer der jüngsten“ für die Mitglieder des „Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands“ um materielle Entschädigung und Anerkennung.

Es ist ein kleiner Verein, dem er angehört. Von den 70.000 lettischen Juden überlebten etwa 1.000 die deutsche Besatzung. Von ihnen befanden sich nach der Unabhängigkeitserklärung 1990 noch 120 in Lettland, um den Verein zu gründen. Heute leben noch 91. „Davon“, sagt Bergmann, „sind immer mehr bettlägerig und pflegebedürftig.“ Und bitterarm. Die durchschnittliche Monatsrente in Lettland liegt bei 100 bis 120 Mark und wird oft schon von der Miete verschlungen. Ob es denn von der deutschen Regierung zuviel verlangt sei, fragte Bergmann in Washington, diesen Menschen, die das Inferno der Nazi-Zeit durchlitten haben, „ein würdiges Ende im Alter“ zu ermöglichen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat seit ihrem Bestehen rund 96 Milliarden Mark im Rahmen des Bundesentschädigungs- und Bundesrückerstattungsgesetzes an die Opfer von Nazi-Verbrechen gezahlt. 1993 wurden Abkommen mit der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrußland unterzeichnet, welche die Errichtung von Stiftungen vorsahen, mit deren Hilfe die NS-Opfer aus der ehemaligen Sowjetunion mit einer Milliarde Mark „entschädigt“ werden sollten. Ein entsprechendes Abkommen war zuvor mit Polen getroffen worden, das 500 Millionen Mark erhielt. Rechnet man die Summen auf die Zahl der Antragsberechtigten um, so erhalten überlebende NS-Opfer in der ehemaligen Sowjetunion und Polen eine einmalige „Wiedergutmachungszahlung“ in Höhe von 1.000 bis 2.000 Mark. Die Überlebenden in den baltischen Staaten gingen de facto leer aus, weil man sie de jure an die Stiftungen in Moskau und Minsk verwies.

Inzwischen stapeln sich bei Alexander Bergmann die Stellungnahmen aus Bonn. So das Angebot von Bundesfinanzminister Theo Waigel, den baltischen NS-Opfern statt eigener „Entschädigungsansprüche“ lieber „zukunftsorientierte Sachleistungen“ wie zum Beispiel Gelder für die Errichtung von Sanatorien und Altersheimen anzubieten; die Ablehnung Bergmanns erfolgte in einem offenen Brief im Dezember 1993, „weil wir das Barackenleben zum Beispiel in KZ-Lagern zur Genüge kennengelernt haben.“ Im Januar 1994 forderte das lettische Wohlfahrtsministerium, die „zukunftsbezogenen Sachleistungen“ auch den ehemaligen Angehörigen der lettischen Waffen-SS zukommen zu lassen. Die Bundesregierung lehnte empört ab. Der Empörung könnte man sich anschließen, wüßte man nicht, daß über 100 kriegsversehrte ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS monatlich eine Rente von 100 bis 300 Mark aus Deutschland überwiesen bekommen. Anfang Januar diesen Jahres stellte Bonn je 150.000 Mark für zwei Jahre für die NS-Opfer in Lettland, Litauen und Estland in Aussicht – pro Kopf monatlich 20 bis 25 Mark. „Inakzeptabel“ nennt das „American Jewish Committee“ diese Offerte. „Würdelos“, sagt Alexander Bergmann.

Von solchen Angeboten ist sein Tischnachbar Andrej Milar, Auschwitz-Überlebender, bislang verschont geblieben. Ihm und den anderen rund 1.300 Holocaust- Überlebenden in der Slowakei hat man bislang überhaupt keine individuelle Entschädigung angeboten – ebensowenig den NS-Opfern in Tschechien. Über deren Entschädigung will man, so Tomas Kraus, Direktor der „Föderation jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik“, in Bonn erst nachdenken, wenn Prag die Vertreibung der Sudetendeutschen für Unrecht erklärt hat. „Diese Menschen werden noch einmal dafür bestraft, daß sie überlebt haben“, sagt Nicholas Lane, Vorstandsmitglied des AJC. Klaus Kinkel wird sich nach seiner Rede über die Zukunft der deutsch-jüdischen Beziehungen einige Fragen zur Gegenwart gefallen lassen müssen.