Wenn Unfug zur Kunst wird

■ Zeichungen und Malerei von Geisteskranken – eine bewegende und überraschende Ausstellung des Bremer Krankenhaus-Museums

orin der „grobe Unfug“ bestand, den die Bremer Polizei dem Vagabunden Gustav Röhrig vorwarf, ist nicht bekannt. Das Strafmaß hingegen haben die Beamten genau festgehalten: fünf Mark und zwei Tage Haft. Zum Unfug kamen Vorwürfe wegen Bettelei, Beleidigung und Widerstand. Das reichte – um Röhrig zur „Correction“ ins Arbeitshaus zu schicken. Und von da in die städtische Irrenanstalt, das St.-Jürgen-Asyl.

Den kurzen Weg des ausgemusterten Soldaten Röhrig in die Psychiatrie sind viele gegangen. Im reformbegeisterten Bremen der Jahrhundertwende reichten Auffälligkeiten minderer Art schon aus, um ins Asyl abgeschoben zu werden: Trunkenbolde und Landfahrer galt es gründlich zu kurieren. Einige dieser Schicksalsgeschichten werden jetzt in einer Ausstellung des Bremer Krankenhaus-Museums erzählt – vor allem in Bildern. Unter dem Titel „Die Macht der hypnotischen Suggestion“ zeigt die Schau Zeichnungen, Gemälde und Karikaturen, in denen Patienten wie Gustav Röhrig den Irrsinn ihrer Zeit verarbeiteten.

Nun sind die Bilder genau dort zu sehen, wo sie entstanden sind. Denn das Krankenhaus-Museum hat sein Domizil in einem jener beschaulichen Fachwerk-Gebäude, die die Bremer 1904 für ihre irren Zeitgenossen errichteten, draußen am östlichen Stadtrand. In Bremer Besitz befinden sich die Bilder längst nicht mehr: Das Museum lieh sie aus Heidelberg, wo sie in der legendären „Prinzhorn-Sammlung“ bewahrt werden, zusammen mit rund 5000 weiteren Kunstwerken psychiatrischer Patienten. Den kunsthistorischen Wert der Schau wollen die Bremer Kuratoren allerdings nicht zu hoch hängen – auch, wenn die Künstler der Moderne, von Max Ernst bis Salvador Dalí, sich häufig und gern auf die „Bildnerei der Geisteskranken“ bezogen. Vor allem, sagt Museumsleiter Achim Tischer, „wollen wir die Biografie dieser Menschen zeigen: Welche Personen sind hier in der Irrenanstalt gelandet? Und wie ist man in Bremen mit ihnen umgegangen?“

Das erzählen die Bilder, unterstützt durch sehr genau recherchierte Katalogtexte, auf ebenso eindringliche wie unterhaltsame Weise. Denn mitnichten kreisen die Bild-Erfindungen Röhrigs und seiner Mitinsassen nur um private Spinnereien. In Röhrigs Porträtzeichnungen vermögen dessen Ärzte zwar vor allem die „eigentümlichen Schnörkel“ zu erkennen. Aber die Motive – zumeist groteske Soldatenköpfe – sprechen Bände über die Präsenz des Militärs im ausgehenden Kaiserreich.

Tischer sieht diese Künstler denn auch als wichtige „Zeugen der Zeitgeschichte“. Als Röhrig sich als Prophet und Begründer einer „Weltfriedensgesellschaft in allen Erdteilen“ aufspielt, tagt gerade die Haager Friedenskonferenz von 1899. Und die neu aufkeimenden Naturbewegungungen finden ihre Resonanz in den Bildern des Schildermalers Friedrich Fent, der 1911 ins St.-Jürgen-Asyl eingeliefert wurde. Auf Plakaten, die Fent in schönster Jugendstil-Manier ornamental ausgestaltet, preist er freie Liebe, die Schönheit der Natur und die „neue Ethik“. An den Bremer Pastor Forcke adressiert er die Botschaft: „Was nützt es uns, so heuchlerisch vom Jenseits zu schwatzen? Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen!“

Mit ähnlich feinsinnigem Spott bedenkt Fent dann auch den Alltag in der Anstalt. „Dr. Allwissend, Dr. Röntgen und Tante Elektra“ bespitzeln in einer Karikatur den brav im Bette liegenden Patienten. Der Zeichner läßt sie orakeln: „Wahnsinn ... nein – Unsinn!!! Willst Du gestehen?“

Am liebsten aber witzelt Fent über die neuen Hypnose-Methoden des Hauses. Die vagen Theorien über die „Heilkraft des Magnetismus“ und die Chancen der „Auto-Suggestion“ stehen in St. Jürgen hoch im Kurs. Für Fent ein ausgemachter Hokuspokus, dem er satirische Form verleiht: Er stellt „die Macht der Hypnotischen Suggestion“ als geisterhafte Riesendame dar, von Schlangen und Sternen umschwärmt; aus ihren Fingerspitzen läßt sie gleißende Strahlen auf den Patienten niedersausen – ein nacktes Männlein, angekettet mit einer Eisenkugel.

So lassen die Bilder in Andeutungen den rauhen Alltag im Asyl erahnen. Landarbeit, Strafarbeit, Schweigen auf Befehl. Wer aufmuckte oder schon wieder „Unfug“ anstellte, bekam das „Deckelbad“ verpaßt, eine der beliebtesten Bremer Therapie-Methoden: In ganztägigen Warmwasserbädern wurden die launigen Patienten förmlich weichgekocht. Daß in dieser Anstalt überhaupt gemalt werden durfte, ist für die Museumsleute heute allerdings auch ein Zeichen für die relative Großzügigkeit der Bremer Institution. „Erstaunlich, wieviel Freiheit die Patienten damals für das Zeichnen und Malen genossen“, sagt Achim Tischer.

Bilder von ähnlicher Intensität tauchen heute übrigens kaum mehr auf, wie der Museumschef einräumt. Die Freiheit für die Patienten mag größer geworden sein. Das Deckelbad ist ebenso verschwunden wie die kurzlebige Hypnose-Mode. Aber die modernen Maltherapien haben auch die spontane, ungebändigte Ausdruckskraft vieler Patienten in geordnete Bahnen gelenkt. Zuwachs bekommt die Prinzhorn-Sammlung kaum noch, wie deren Kustodin Inge Jádi beklagt: In den 20ern waren noch zwei bis drei Prozent der Patienten „aus eigenem Antrieb kreativ tätig“; heute „kann man dies als extreme Ausnahme bezeichnen“.

Für Gustav Röhrig und andere verirrte Zeitgenossen war das Malen, wie die Ausstellung zeigt, jedenfalls mehr als eine besänftigende Therapie. Wenn „Hauptmann Röhrig“ malte, durfte er sich als „Fürst“ und „Künstler“ fühlen. Dann wurde aus dem Vagabunden ein Virtuose, geschätzt und von allen geliebt. tw

„Die Macht der hypnotischen Suggestion“; 9. Mai bis 7. Juli, Krankenhaus-Museum auf dem Gelände des ZKH-Ost (Züricher Str. 40); Eröffnung heute, 11 Uhr. Katalog erscheint im Donat-Verlag, 96 S., 24,80 Mark