German Open? Ohne Boris: German Closed!

■ Becker bewahrt Hamburger Rothenbaum mit seinem gestrigen Sieg vor Totentanz

Hamburg (taz) – Jeder Veranstaltungstag beginnt für Günter Sanders mit Zählen. Wie beim Morgenappell geht der Turnierdirektor vom Hamburger Rothenbaum im Geiste die Reihen durch. Meist verdunkelt sich sein Blick, wenn der Generalsekretär des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) registrieren muß, daß Deutschlands größtes Sandplatzturnier wieder ein paar prominenter Spieler verlustig gegangen ist. Stars sind in der Hansestadt so rar, daß gestern nachmittag alles durchatmete, als Boris Becker mit Mühe ein 6:2, 3:6, 6:3 über den Spanier Emilio Alvarez geschafft hatte.

Dennoch schmerzt es, wenn sich bereits am zweiten Tag der Titelverteidiger Andrej Medwedew verabschiedet und mit Malivai Washington der einzige US-Amerikaner im 56er-Einzel-Feld abhanden kommt. Überhaupt die Amis. Die sind an allem schuld, auch daran, daß die German Open schon in German Closed umgelästert wurden. Nur vier Spieler der ersten Zehn sind dieses Jahr vertreten, vergangenes waren es noch nine out of ten. Die Liste der fehlenden Yankees liest sich wie ein Ratgeber für Absagen: Jim Courier ist der Unlust anheimgefallen, Michael Chang weilt auf Promotour in Südostasien, und Branchenführer Pete Sampras verweist auf den Tod seines Trainers. Den Paradiesvogel schoß jedoch wieder mal Andre Agassi ab. Der Las Veganer, sagt DTB-Pressesprecher Hecht, wählte die „Last-Minute-Tour“: Zwei Stunden vor Auslosung sagte Agassi wegen einer Knöchelverletzung ab. Das freie Wochenende nutzte er, um mit seiner Lebensabschnittsgefährtin Brooke Shields Verlobung zu feiern.

Ein ganz besonderes Fest sollte auch Deutschlands größtes Sandplatzturnier diesmal werden. Den Centre Court hatte der DTB für 15 Millionen Mark auf 13.137 Plätze zum fünftgrößten Stadion der Welt ausbauen lassen. Doch schon die Eröffnungsfeier geriet zum Flop: Das Frauenturnier vergangene Woche wollten 14.000 Zuschauer weniger sehen als im Vorjahr. Das lag auch an der noch schwächeren Besetzung als bei den Männern – und nicht nur am schlechten Wetter, wie Sanders vermuten wollte. „Hamburg hat das Image, daß es hier kalt ist und regnet“, wird der Tennisfunktionär nicht müde zu wiederholen, wohl wissend, daß dies nicht einmal die halbe Wahrheit ist. Vielmehr ist das angeblich so rauhe Klima im Norden ein immergrünes Vorurteil und schon deshalb eine gute Ausrede für die Spieler. Die US-amerikanischen Spieler starten erst eine Woche nach Hamburg in die Sandplatzsaison: Das letzte Turnier vor den French Open ist in Rom und reicht als Vorbereitung. Von ihrer Terminplanung lassen sich Sampras et al. nicht einmal mit viel Geld abbringen. Davon haben sie genug. Auch nicht von den Weltranglisten-Punkten dieses Turniers der Super-9-Serie, was immerhin die höchste Kategorie nach den vier Grand Slams bedeutet.

Daß ausgerechnet die Spielervereinigung ATP Sanders aus seinem Dilemma helfen wird, ist nicht anzunehmen. Die Standesvertretung steht zwar in der Verpflichtung, für jedes Super-9-Turnier sieben oder acht Spieler der Top ten zu liefern, doch Druckmittel hat sie keine. Drohungen der ATP oder auch der Turnierveranstalter bringen die Elite nicht um den Schlaf. Die weiß zu genau, daß die Zuschauer große Namen sehen wollen. Die Armada der spanischen Sandplatzwühler mag zwar sportlich gesehen Wertvolles leisten. Zu Attraktionen wird das zweifache Dutzend Costas und Corretjas nicht. Topspin, bis den Grundlinienfetischisten die Schwarte kracht, ist dem Publikum auf Dauer zuwenig. Der rekonvaleszente Lokalheld Michael Stich hat nur im Doppel gemeldet. Somit blieb, wie oft, auch hier und dieses Mal nur Boris Becker. Während sich Kollege Bernd Karbacher (6:4, 5:7, 6:7 gegen Arnaud Boetsch) verabschiedete, deutete Becker gegen Alvarez im dritten Satz gar eine gewisse Annäherung an den ihm fremden Sand an. Becker spielt heute im Achtelfinale gegen den Österreicher Gilbert Schaller. Verliert er, ist in Hamburg Totentanz.

Dieses Risiko will Sanders für die beckerlose Zukunft so gering wie möglich halten. Im Herbst wird mit einer 15 Millionen Mark teuren Dachkonstruktion begonnen, beim nächsten Mal soll der Centre Court überdacht werden können. Das Wetter wäre dann kein Grund mehr für ein schwaches Teilnehmerfeld. Und: Die finanzschwachen Organisatoren von Rom haben Probleme, die 2,2 Millionen Mark Preisgeld für ihr Turnier aufzutreiben. Der wohlhabende DTB könnte sich also eine Verlegung erkaufen. Das würde Günter Sanders freuen. Der könnte dann mal wieder in Ruhe frühstücken. Clemens Gerlach