: Unkenntnis bei den Behörden
Seit April 1995 kann die Strafhaft für Deserteure im Zweiten Weltkrieg bei der Rentenberechnung als „Ersatzzeit“ mitgezählt werden ■ Von Thomas Gehringer
Köln (taz) – Waren die NS-Militärurteile gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ nach heutigen Maßstäben Rechtens? Ein halbes Jahrhundert lang wurde in Deutschland das Thema tabuisiert, und die Opfer der Militärjustiz erhielten für ihre Haftzeit in der Regel keine Rentenzahlung. Erst im April 1995 faßte der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) einen Grundsatzbeschluß: „Die Zeiten der Verbüßung einer Militärstrafhaft im Zweiten Weltkrieg sind militärischer Dienst, es sei denn, die Verurteilung war offensichtlich rechtmäßig.“
Damit wurden die Versicherungsträger erstmals aufgefordert, die Strafhaft als Ersatzzeit bei der Berechnung der Rente mit zu berücksichtigen. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) freute sich damals: Es sei für alle Betroffenen sehr wichtig, „daß ihre Verurteilung endlich als Unrecht anerkannt“ wird.
Doch in der Praxis hat sich dies bisher kaum bemerkbar gemacht – kein Wunder, nach fünf tatenlosen Jahrzehnten. Auf etwa dreihundert Menschen schätzt die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz die Zahl der noch lebenden Verurteilten. „Viel, viel mehr sind es“, glaubt dagegen Sonja Schlegel von der Kölner Beratungsstelle für NS-Verfolgte. Auch die Witwen könnten ja die neuen Rentenansprüche geltend machen. Aber nach oft jahrelangen vergeblichen Anläufen, sagt Sonja Schlegel, „fehlt vielen der Mut“, sich erneut an eine Behörde zu wenden.
Die beiden einzigen bisher bekannten Fälle machen allerdings deutlich, daß sich der neue Geist nur mühsam durchsetzt. Obwohl die Verfahren der NS-Militärjustiz gewiß nicht nach rechtstaatlichen Prinzipien durchgeführt wurden, hält die Landesversicherungsanstalt Westfalen in Münster das Urteil gegen einen Soldaten, der wegen Diebstahls und Fahnenflucht mit vier Jahren Haft bestraft wurde, für „auch nach heutigen Maßstäben Rechtens“, so Abteilungsleiter Klaus Roberz. Der Antrag, die Strafhaft als Ersatzzeit bei der Rentenberechnung anzuerkennen, werde deshalb abgelehnt.
Nicht besser erging es zuerst dem 75jährigen Rudolf Lorenz. Wegen seiner Weigerung, Juden zu verschleppen und zu erschießen, wurde der Wehrmachtsoldat inhaftiert, „psychiatrisch“ behandelt und endlich mit einem Strafbataillon an die Front geschickt. Zweimal konnte Lorenz fliehen, zweimal wurde er wieder gefaßt. Das Ende 1944 in Torgau gefällte Todesurteil wurde nicht vollstreckt, Lorenz entkam auf dem Todesmarsch der Torgauer Häftlinge nach der Auflösung des Gefängnisses 1945.
Doch am 1. April 1996 war die LVA Rheinprovinz in Düsseldorf immer noch der Ansicht, daß die Strafhaft „nicht als offensichtliches NS-Unrecht angesehen“ werden könne. Die bis ins Detail haarsträubende Begründung gipfelt in historischer Ignoranz: „Ihre militärpsychiatrische Behandlung – nicht Strafhaft – begann nach Ihren Angaben bereits im Mai 1942, der Krieg mit der Sowjetunion brach jedoch erst am 22.6. 1942 (sic!) aus.“
Mittlerweile ist der LVA Rheinprovinz dieser Bescheid peinlich. Auf Anfrage teilte ein Sprecher mit, daß hier ein einzelner Dezernent eine falsche Rechtsauffassung kundgetan habe. Dem von der Kölner Beratungsstelle eingelegten Widerspruch werde stattgegeben, die Militärstrafhaft als Ersatzzeit anerkannt.
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