Die Stunde der Vereinfacher

■ Große Töne auf dem Sozialgipfel des DGB

Im Streit um den Sozialstaat droht jetzt wieder die große Stunde der Vereinfacher. Je komplizierter die Lage, um so verwegener ihre Tonlage. Während die Opposition im Zusammenhang mit dem Bonner Sparpaket von einer „Zerschlagung des Sozialstaates“ redet, tut die Regierung so, als sei gar nichts passiert. Bei diesem geistigen Durcheinander fällt es schwer, das Richtige im Falschen und das Richtige überhaupt zu erkennen.

Tatsächlich durchleben wir einen dramatischen ökonomischen Umbruch, der durchaus, wie Blüm zu Recht sagt, an die fundamentalen Veränderungen beim Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft heranreicht. Wenn in diesem Prozeß die Massenarbeitslosigkeit anhält, dann ist unser beitragsbezogenes Sozialsystem nicht zu halten. Das wissen auch die Bonner Oppositionsparteien und die Gewerkschaftsführer, die deshalb die Schaffung von Arbeitsplätzen als wichtigste Sanierungsmaßnahme des Sozialstaates ansehen.

Was die Bonner Regierung dagegen jetzt als Sanierung verkauft, kommt einer Roßtäuscherei gleich. Diese Sparmaßnahmen sind nicht nur sozial völlig unausgewogen, sondern im Angesicht der dauerhaften Arbeitslosigkeit auch schlicht untauglich. Die behauptete Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen kann damit gar nicht gelingen.

Doch auch die Opposition spielt falsch, weil sie die Dramatik der Entwicklung, den ungeheuren Druck auf die Hochlohnstandorte leugnet. Vor ein paar Jahren waren noch zirka 50 Prozent des weltweiten Arbeitskräftepotentials durch Planwirtschaft und Protektionismus von den internationalen Märkten ausgeschlossen. Bis zum Jahr 2000 sind 90 Prozent aller Arbeitskräfte in die Weltwirtschaft eingebunden. Gleichzeitig findet eine rasante Produktivitätsentwicklung statt. Von 1960 bis 1994 ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in Deutschland von 56,1 Milliarden auf 45,7 Milliarden zurückgegangen. Gleichzeitig wurde der Output verdreifacht.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen auf einen Beschäftigungsaufbau in Millionenhöhe zu setzen, zeugt von politischem Abenteurertum. Trotzdem tun es alle. Gelingt das Jobwunder nicht, geht auch der Sozialstaat flöten – trotz aller großen Töne. Walter Jakobs