Alltagsgott und Nadelöhr

■ Winterhude, ein Stadtteil zwischen Arbeiterquartier und gehobenem Studienratsmilieu. Eine Betrachtung von Lisa Schönemann

Eingehakt stehen Mutter und Tochter vor dem riesigen Schaufenster am Mühlenkamp in Winterhude und trauen ihren Augen nicht. Neben den kniehohen, schlanken Lederstiefeln liegt ein Schildchen mit der Aufschrift „DM 598“. Bis vor wenigen Monaten wurden an dieser Stelle noch Briefmarken und Telefonkarten verkauft. Das Postamt im klassizistischen „Amol-Hof“ mit der prunkvollen Fassade hat einem Juwelier und einer Schuhboutique Platz gemacht. „Naja“, sagt die Ältere und zieht die erste Silbe des Wortes seufzend in die Länge. „Naja“, antwortet die junge Frau mit der bunten Winterjacke. Beide machen kehrt und setzen ihre zerzausten Dauerwellen erneut dem Sturm aus, um sich vor dem Fischgeschäft „Böttcher“ in die Schlange einzureihen.

In dem bis unter die Decke gekachelten Laden werden seit 80 Jahren frische Meerestiere verkauft, wie eine Inschrift stolz verkündet. Die Auslage ist im Vergleich zum benachbarten „Amol-Hof“ eher gediegen. Ein Herr mit Baskenmütze kauft Bücklinge, die nächste Kundin verlangt gebratene Heringe und zieht ihren selbstgestrickten, zur Mütze passenden Schal fest um den Mantelkragen, bevor sie an den Wartenden vorbei zurück auf die Straße geht.

Der erste Eindruck, das Viertel zwischen Alster und Stadtpark sei zu einem aberwitzigen Abschreibungsprojekt mit teuren Etablissements für den Erwerb von Luxusgütern verkommen, täuscht. Das Gesicht Winterhudes mit den traditionsreichen Kneipen, Bürgerhäusern und Arbeitersiedlungen mag sich verändert haben – der Alltag der Menschen ist gleich geblieben. „Der Stadtteil ist immer noch liebenswert“, bilanziert ein Bewohner, der vor fünfzehn Jahren als Student eine winzige Wohnung am Schinkelplatz bezog und sich selbst als „eingefleischten Städter“ bezeichnet. „Das Geheule über die angebliche Schicki-Mickisierung ist doch blanker Unsinn...“ Der Buchhändler an der Ecke pflichtet ihm bei: „Meistens sind diese Läden am Mühlenkamp nur eine Episode.“ Der glanzvollen Eröffnung folgt nach Jahresfrist die bittere Erkenntnis, daß sich eine Quadratmetermiete von vierzig Mark nicht eben spielend hereinwirtschaften läßt...

„Das Geheule von der Schickimickisierung - blanker Unsinn!“

Der ehemalige Student erinnert sich noch, anfangs „lose Milch“ gekauft zu haben. Der Milchmann bezog sie in 20-Liter-Schläuchen, die er im hinteren Teil seines Geschäftes kühlte. Diesen und viele andere Höker gibt es längst nicht mehr. Der Kaufmann an der Ecke ist ebenso verschwunden wie die quietschende Straßenbahn, die bis Ende der siebziger Jahre durch Winterhude ratterte. „Schuhmacherei Walter Suhr“ prangt an einer Häuserfassade in der Gertigstraße. Doch in die Schaufenster im Erdgeschoß kann durch die zugezogenen Gardinen keiner mehr hineinsehen.

Obwohl das Quartier in unmittelbarer Nachbarschaft zu Eppen-dorf und Barmbek nie Sanierungsgebiet war, sind die meisten Wohnungen modernisiert worden. Je kleiner sie waren, desto eher wurden sie zu größeren Einheiten zusammengefaßt – sei es, um den Hunger der Gutverdienenden nach Quadratmetern zu stillen. Wo früher Studenten und alte Menschen lebten, haben sich jetzt Familien niedergelassen. Es gibt wieder Klingelstreiche und von Kinderhand geklaute Fahrradventile. Viele Häuser haben mindestens zweimal den Besitzer gewechselt. Im selben Atemzug wurde auch der Schinkelplatz umgestaltet. Es gibt in Hamburg nur eine Handvoll vergleichbarer Gevierte mit geschlossener Bebauung, die ein winziges Grün umschließen, wie etwa der Paulsenplatz in Altona. Den Schinkelplatz jedenfalls zierte einst ein klobiger Bunker, der so gar nicht zu den Gründerzeithäusern passen wollte. Er wurde teilweise abgetragen und begrünt. Spielplatz und Planschbecken lenken das Auge von dem unverrückbaren Klotz ab, in dessen Katakomben sich jetzt die Weinstuben der „Mühlenkamper Bücherstuben“ befinden.

Augenzwinkernd verrät der Buchhändler , daß es in Winterhude „sogar einen Gott gibt“. Tatsächlich hat der Autor Hans-Georg Behr auf dem Schinkelplatz auf einem kleinen Sockel eine noch kleinere Statuette aufstellen lassen, die dem indischen Gott Gajneesh nachgebildet ist. Der wiederum ist für die kleinen Dinge des Alltags zuständig. Ob die Figur ein Zeichen gegen die Intoleranz gegenüber fremden Religionen setzen, den Bewohnern im Alltag beistehen soll oder lediglich die Ausformung einer verückten Idee ist – wer will das so genau wissen?

Bei einem kann Gajneesh den Winterhudern nicht helfen: Bei der Parkplatzsuche. Wer über die Osterbekkanal-Brücke in den Stadtteil hineinfährt, dem fällt vor allem eines auf: Jeder neuzugezogene Wohnungseigentümer muß etwa zwei Autos mitgebracht haben. Selbst in der zweiten Reihe ist keine Lücke mehr frei. Da kann es schon einmal zehn Minuten dauern, bis sich der dicke Gelenkbus mit der Nummer 108 über die Brücke gequält hat, und dann im Mühlenkamp erneut steckenbleibt. Seit dort weit sichtbar Bagger und Kran eine riesige Siel-Baustelle besetzen, ist kein Durchkommen mehr. Wie ein tiefer Graben trennt der Mühlenkamp das ehemalige Arbeiterquartier um die backsteinrote Jarrestadt vom gehobenen Studienratsmilieu an der Alster. Doch offenbar ist der tägliche Verkehrsinfarkt noch nicht unerträglich genug. Pläne für eine konsequente Schließung des Nadelöhrs Mühlenkamp für den Durchgangsverkehr finden keine Mehrheit.

Klingelstreiche und von Kinderhand geklaute Fahrrad-Ventile

„Die Leute gewöhnen sich an alles“, beschreibt die Verkäuferin von „Hund und Katze“ die Mentalität ihrer Kundschaft. „Die Menschen haben mit den Autos weniger Probleme als die Hunde.“ Das Fachgeschäft für Vierbeiner-Freunde ist besonders an Markttagen zum Treffpunkt geworden. „Es ist nicht wie beim Friseur“, sagt die junge Frau, „niemand drängt mir hier seine Lebensgeschichte auf“. Doch für einen Plausch über Alltagsprobleme sei immer genügend Zeit. Ein Frührentner balanciert außer einer Tüte voller Katzenfutter auch ein überladenes Kuchenpaket nach Hause. „Für meine Skatrunde“, murmelt er, und daß er gestern „haushoch verloren“ habe. Auf dem Markt am Goldbekufer zieht es fürchterlich. Alleinerziehende mit Kinderkarren frieren vor dem Demeter-Stand. Vergeblich preist ein Blumenhändler seine Tulpenzwiebeln an. Eine alte Frau ist froh, daß „die Sturmflut bestimmt nicht bis hier her kommt“. Das hätten sie im Radio gesagt.