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Das Kleinstadt-Quartett

■ Norderstedt wird 25 Jahre alt: Nur wenig Grund für Jubelfeiern in der umweltbewußten Schlafstadt an Hamburgs Nordrand Von Jürgen Oetting

Die vorauseilende Glückseligkeit drohte aus den Fugen zu geraten. Deshalb ließ man sich etwas einfallen: Zur Feier des Tages wurde eine Briefmarkenwerbeschau eröffnet. Das war am 1. Januar 1970. An diesem Tag entsprang die Stadt Norderstedt der landespolitischen Retorte. Fast genau neun Monate vorher hatte der Kieler Gesetzgeber die urbane Mixtur im Reagenzglas der Gebietsreform zusammengematscht.

Am 25. März 1969 verabschiedete der schleswig-holsteinische Landtag mit den Stimmen von CDU, FDP, NPD und SSW gegen die SPD das Norderstedt-Gesetz, das die vier „Ochsenzoll-Gemeinden“ Friedrichsgabe, Garstedt, Glashütte und Harksheide zum Jahreswechsel zur fünftgrößten Stadt des Bundeslandes machte - mit damals 50.000 Einwohnern.

Die angehenden Norderstedter hätten gut auf das historische Ereignis verzichten können, sie waren in ihren gewachsenen Gemeinden ganz zufrieden. Kaum einer war gierig darauf, Bewohner einer schleswig-holsteinischen Neo-Kommune und darüberhinaus auch noch eines fremden Landkreises zu werden. Norderstedt ist Teil des Kreises Segeberg. Harksheide und Glashütte gehörten bis Sylvester 1969 zum Kreis Stormarn (Kreisstadt Bad Oldesloe), Garstedt und Friedrichsgabe zum Kreis Pinneberg.

Während der gedämpft-stimmigen Abschiedsfeier wies einer der Honoratioren am 22. Dezember 1969 bei Kerzenlicht darauf hin, daß Garstedt seit 600 Jahren zur „Herrschaft Pinneberg“, davon seit 100 Jahren zum Kreis Pinneberg gehört hatte. Noch älter aber sind die Beziehungen der vier verschwundenen Ortschaften zur Freien und Hansestadt Hamburg.

Die ersten urkundlichen Erwähnungen von Garstedt (1370) und Harckesheyde (1374) finden sich in Hamburger Krämereirechnungen. Später muß der Ochsenzoll eine wichtige Rolle gespielt haben. Drei Jahrhunderte lang war es üblich, die armen Tiere durch die Harksheide zu treiben, um sie dann kurz vor der hamburgischen Landesgrenze durch den Zoll zu bringen. Das ging so bis 1867, dann verschwand die Zollstation. Gut hundert Jahre später war es dann auch mit Harksheide und den anderen drei Ochsenzoll-Gemeinden vorbei. Und die Glückseligkeit beschränkte sich allein auf Philatelisten - sie konnten den Ersttagsstempel einer neuen Stadt ergattern. Der wurde dann auch an die 20.000 mal heruntergedrückt.

Wenige Tage vor dem Großen Stempeln war der letzte Versuch von Kommunalpolitikern gescheitert, eben dieses zu verhindern. Einen Tag vor Weihnachten 1969 wies das Bundesverfassungsgericht alle Einwände und Beschwerden gegen das „Norderstedt-Gesetz“ als „unzulässig und unbegründet“ zurück. Erst einmal wurde das neue Verwaltungsgebilde von einem Kieler Kommissar regiert, dem alteingesessene Politiker aus den früheren Kommunalparlamenten nur zugeordnet waren.

Das alles hätten sich die Herumgeschubsten mit weniger Zähneknirschen gefallen lassen, wenn die Kieler ein kleines regionalpolitisches Bonbon ausgewickelt hätten. Als Norderstedt nicht mehr zu verhindern war, wünschten sich seine politisch aktiven Bewohner in spé zumindest den Status einer kreisfreien Stadt (wie ihn Kiel, Lübeck, Flensburg und Neumünster haben), so richtig mit Oberbürgermeister und ohne Landrat. Doch die Kieler wickelten nicht. Also wird Norderstedt seit einem Vierteljahrhundert aus dem 40 Kilometer entfernten (und viel kleineren) Bad Segeberg mitregiert und hat kommunalrechtlich keinen besseren Status als Deutschlands kleinste Stadt, das 800 Seelen zählende Arnis an der Schlei.

So läßt sich verstehen, daß aus der Stadtgründung zwar ein postalisches Happening wurde, sich weitere zentrale Gründungsfeiern jedoch kaum ereigneten. Aber Neugründungen fanden reichlich statt, schließlich mußte sich jeder Kaninchenzüchterverein den veränderten Bedingungen anpassen. Und dabei gelang es der Sozialdemokratie endlich einmal, schneller als die historische Entwicklung zu sein. Schon drei Wochen vor der Stadt Norderstedt war der SPD-Ortsverein identischen Namens entstanden.

Doch solche Hast wird es im Jubiläumsjahr 1995 nicht geben. Den 25sten Stadtgeburtstag geht man langsam an – aber auch lange. Erst für Sonntag hat die Stadt zu einem Neujahrsempfang geladen, auf der dann wohl auch die Silberhochzeit des flotten Vierers zur Rede kommen wird. Ansonsten haben die Norderstedter ihr Festprogramm über das ganze Jahr gestreckt. Von der glorreichen Retorten-Idee der Kieler Landespolitiker wird dabei nicht immer die Rede sein. So begann der Reigen der Festivitäten wie gehabt – mit einer Ausstellungseröffnung: „Wie ein Buch entsteht“. Erst im August will man sich in der Halle des Harksheider Gymnasiums zu einem Festball hinreißen lassen. Darüberhinaus sind im Veranstaltungskalender des Jubiläumsjahres über zweihundert Termine aufgelistet. Darunter sind – wen wundert's – reichlich 25jährige Jubelfeiern, des Schachklubs etwa oder der städtischen Kindertagesstätte. Nur die Sozialdemokraten dürfen in diesem Jahr nicht feiern, sie waren einfach zu schnell.

Über allem steht immer noch das Motto „Zusammenwachsen“, auch wenn es raffiniert per Lücke umgedeutet wurde: „Zusammen wachsen“. Denn es herrschen nur für den unvoreingenommenen Betrachter von Stadtplänen wie für den unschuldigen Spaziergänger durchaus optische Täuschungen. Es sieht so aus, als seien die Norderstedter Stadtteile Glashütte und Garstedt längst mit Hamburg-Langenhorn verschmolzen. Dagegen kann von einer Vernetzung der Ortsteile Harksheide und Glashütte oder Garstedt und Friedrichsgabe beim besten Willen nicht die Rede sein.

Das muß wohl auch nicht sein, denn eine Stadt präsentiert sich mit ihrer City, und über derart Zentrales verfügt die Jubilarin: das Reißbrettprodukt „Norderstedt-Mitte“. Dort setht das neue Rathaus, in dessen „Forum“ allerlei kommunikative Einrichtungen untergebracht sind: die Stadtbücherei, eine Kunstgalerie, eine psychosoziale Beratungsstelle, Räume der rührigen Volkshochschule. Nur mit den Einkaufsmöglichkeiten ist es in der City noch nicht so weit her. Die gibt es dafür einige Kilometer südlich, im Garstedter „Herold-Center“, einem lieblos in die Landschaft geklatschten Betonklotz in dessen Keller die Hamburger U-Bahn endet. Draußen vor der Tür geht es hier auch für den Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs, der nach Norderstedt-Mitte oder gar Friedrichsgabe möchte, weiter – mit Triebwagen der privaten Verkehrsgesellschaft „Alster-Nord-Bahn“ (ABN). Eine Anbindung des Stadtzentrums an die U-Bahn soll im nächsten Jahr fertig werden, am Bahnhof wird schon fleißig gebaut.

Doch Norderstedt hat nicht nur Baustellen, Konsumkasernen und die Errungenschaften des deplacierten Mietshausbaus zu bieten. Es gibt viele grüne Inseln zwischen den Ortstteilen. Wer mag, kann sich Norderstedt durchaus erwandern, Naherholungsräume gibt es reichlich, und es wird auch dafür gesorgt, daß es so bleibt. Immerhin ist der Umweltschutz eines der Markenzeichen in Hamburgs nördlicher Nachbarstadt.

Schon sehr früh, 1980, als in anderen Städten Ökologiebewegte noch als Störenfriede behandelt wurden, stellte die Stadtverwaltung mit Klaus Kehrmann einen Umweltberater ein. Der baute die „Leitstelle Umweltschutz“ auf, aus der das jetzige Umweltamt wurde. Die Folge dieser frühen „grünen“ Entscheidung: Kaum eine Stadtbevölkerung hat so viele Möglichkeiten der Information über ökologische Fragen wie die Norderstedter, kaum ein Stadtgebiet ist umwelttechnisch so gut durchleuchtet wie das der Retortenstadt. Das wird auch im Stadtbild manifestiert. Auf dem neuen Rathausplatz residiert die Umweltberaterin in einem publikumsnahen Pavillon, dem „Umweltrat-Haus“.

Manche Aktionen des Umweltamtes wirkten bis weit über die Stadtgrenzen hinaus. So wurde das Norderstedter Modell der Beseitigung von privatem Giftmüll aus dem Jahre 1982 bald bundesweit übernommen. Da war es fast zwangsläufig, daß der Schleswig-Holsteinische Heimatbund Norderstedt schon 1984 das Prädikat „Umweltfreundliche Gemeinde“ verlieh.

Doch ausgeprägtes Umweltbewußtsein auf einer Insel bleibt ohnmächtig, wenn der sie umgebende Ozean vergiftet ist. Die fleißigen Bemühungen der Norderstedter Umweltschützer stoßen schnell an eine mächtige strukturelle Grenze, die „Individualverkehr“ heißt.

Die große Masse der Erwerbstätigen unter den inzwischen 70.000 NorderstedterInnen verdient ihr Geld in Hamburg und muß zwischen Arbeits- und Wohnort pendeln. Da die U-Bahn noch auf sich warten läßt, HVV-Busfahrten in Hamburgs Mitte zeitaufwendig und nicht besonders komfortabel sind, läßt sich die PKW-Vorliebe auch – und gerade – im umweltbewußten Norderstedt nicht abbauen.

So wälzen sich täglich zwei endlose Blechlawinen morgens in die Großstadt hinein und abens wieder aus ihr hinaus. Das ganze findet auf zwei Bundesstraßen (Schleswig-Holstein-Straße und Ulzburger Straße) statt, die schon die Ochsenzoll-Gemeinden mit Hamburg verbanden. Nur wohnen hier inzwischen 20.000 Menschen mehr. Die negativen ökologischen Folgen des alltäglichen Schadstoffausstoßes können schwerlich durch Energiesparmaßnahmen in den Wohnungen kompensiert werden. Und auch nicht durch einen Kompostlehrpfad am Rathaus.

Ohne diese Blechlawinen oder ohne ein extrem verbessertes Angebot im Öffentlichen Personennahverkehr können die Menschen am nördlichen Hamburger Rand kaum existieren, denn Arbeit gibt es vor ihren Wohnungstüren nicht und wird es wohl auch so bald nicht geben. Norderstedt ist das geblieben, was vorher Friedrichsgabe, Garstedt, Glashütte und Harksheide waren: eine Schlafstadt. Daher wäre für die Jubilarin der einst erwünschte Status einer kreisfreien Stadt auch unpassend. In Neumünster nämlich – das kaum mehr Einwohner hat als Norderstedt – wird schließlich nicht nur gewohnt, dort wird auch gearbeitet. Und es wird eine eigene Zeitung gelesen, der täglich erscheinende „Holsteinische Courier“. Der Norderstedter „Heimatspiegel“ ist nur einmal pro Woche neu. Das wirkt schon reichlich provinziell. Sogar der „Probsteier Herold“ in Schönberg am Fuße des Bungsberges erscheint doppelt so häufig.

Es muß noch allerlei zusammenwachsen, bevor Norderstedt wirklich eine Stadt ist. Zur Zeit fehlen ihr dafür die historischen und die infrastrukturellen Grundlagen. Noch wirken die Hamburger Stadtteile Bergedorf oder Harburg sehr viel urbaner als dieses in Kiel zusammengeschüttelte 25jährige Kleinstadtquartett.

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