Vielleicht der traurigste Ort der Stadt

■ Flüchtlingsleben zwischen Nato-Draht, Trostlosigkeit und Zukunftsangst Von Silke Mertins

Am Anfang war bedrücktes Schweigen: Nicht zum ersten Mal besichtigen die Mitglieder der Flüchtlings-Tribunal-Gruppe eine Sammelunterkunft. Doch die Sprachlosigkeit zwischen dem ohrenbetäubenden Lärm der sechsspurigen Straße und der betongewordenen Trostlosigkeit der Behausungen stellt sich von ganz allein ein. Der Ort: Amsinckstraße 70.

In den beiden Gebäuden rechts und links der Einfahrt wohnen bosnische Flüchtlingsfamilien. „Dort im Hinterhof waren bis vor einigen Monaten junge Afrikaner in Containern untergebracht“, erzählt Dorothea Zirkel vom Flüchtlings-Tribunal. Die wurden umverteilt, die Container abgeholt. Jetzt wurden neue Wohnkästen aufgestellt, BosnierInnen sind eingezogen. Ein Dutzend Drei- bis Zehnjähriger wuselt in Richtung Hinterhof, toben mit Fahrrädern und alten Einkaufswagen über den Beton. Der Billekanal ist mit doppelt gerolltem Nato-Draht abgezäunt, ebenso der Abhang, der zu den Bahngleisen führt. Die Kinder probieren, ob die Stacheln pieksen.

Auf Privatgrundstücken und in Wohngebieten ist Nato-Draht verboten. Aber hier gelten von Amts wegen andere Regeln. „Was passiert, wenn ein Kind stolpert und in den Draht hineinfällt, darf man sich gar nicht vorstellen“, überschreit Dorothea den Autolärm. „Hier sieht es aus wie auf dem Gelände des Abschiebeknasts Glasmoor.“ Ein Stück weiter auf dem Gelände ist zwischen Skateboard-Bahn und vorbeirasenden Autos ein eingezäunter Spielplatz. Die Tribunal-BesucherInnen halten sich die Ohren zu. Knirpse spielen im Sand, besteigen die Rutsche, versuchen sich etwas zuzuschreien. Vielleicht der traurigste Ort in der ganzen Stadt.

Es geht weiter zu einem anderen Komplex Containern. Größere Mädchen passen zwischen Unterkünften und Zaun auf ihre kleineren Geschwister auf. „Hier kennen wir eine siebenköpfige Familie, die auf 16 Quadratmetern lebt“, sagt Rechtsanwältin Sigrid Töpfer. Das Baby liegt auf der Intensivstation, der Vater ist herzkrank. Sie „wohnen“ wie die meisten seit über zwei Jahren an diesem Unort. „Ab drei Uhr nachts geht hier der Betrieb auf dem Großmarkt los“, so Dorothea und zeigt auf das Nachbargebäude. Die Mädchen kommen angelaufen, sie sind neugierig geworden. „Das ist laut hier, aber wie!“ sagt eine. Sie geht zur Schule Wandsbeker Markt, über eine Stunde muß sie fahren.

Angst vor Abschiebung haben viele hier. Eine Frau kommt hinzu. Alle hier machten sich Sorgen um die Zukunft. „Die Familie von diesen beiden hier hat eine Verfügung bekommen“, sagt sie. „Sie haben vier Kinder.“ Die Sozialarbeiterin Ajisa Winter bestätigt den Fall, der laut Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) und Ausländerbehörde gar nicht sein kann; nur Alleinstehende und kinderlose Ehepaare sollen ab Juli mit freiwilligem Zwang ausreisen. Der Rest hat eine Gnadenfrist. „Das kann in der Tat nicht sein“, sagt der Sprecher der Ausländerbehörde, Gunnar Eisold. Die Abschiebung von Familien schließt er „kategorisch aus“. Im konkreten Fall läge es daran, daß keine Pässe beantragt wurden. Das könne die Familie nachholen: „Wir sind nicht nachtragend.“

Wie es zuhause aussieht, ob man jemals wieder dorthin zurückkann und wie es weitergehen soll, wisse niemand hier, sagt die Bosnierin. Einfach sei das Leben an der Amsinckstraße wirklich nicht. „Trotzdem ist es besser als bei uns in Bosnien.“