Hunger nach Information

■ In Exjugoslawien mangelt es an unabhängigen Medien. Eine US-Mediengruppe schickt nun Bilder vom UNO-Kriegsverbrecherprozeß in Den Haag nach Bosnien

Was gehört in eine gemütliche Kneipe? In Bosnien gibt es darauf nur eine Antwort: Ein Fernsehgerät mit Satellitenempfang und ein Weltempfänger. Wer ins Café oder in den Pub geht, der will nicht nur seinen Durst stillen, sondern auch seinen Hunger nach Information. Noch haben die Menschen den Kriegsalltag nicht vergessen, sind die schrecklichen Erlebnisse nicht verarbeitet und die wirtschaftlichen Zukunftsaussichten düster. Um all diese Probleme aufzuarbeiten, schauen viele bosnische Bürger von morgens bis abends fern oder hängen am Radio.

Seit vergangenem Dienstag ist das Programm noch politischer geworden: Von morgens um zehn bis nachmittags sechs Uhr wird live aus dem Gerichtssaal des Uno- Kriegsverbrechertribunals in Den Haag übertragen. Auf Eutelsat (16 Grad Ost, 11.658 GHz) flimmert nun der Prozeß gegen den mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher Dusan Tadic europaweit über die Bildschirme, aber auch die Verfahren gegen zwei kroatische und einen muslimischen Folterknecht werden eingeblendet.

Abends zwischen 9 und 11 Uhr werden die wichtigsten Bildsequenzen aus Den Haag auf dem Fernsehkanal der Europäischen Union (Eutelsat, 10 Grad Ost, 11.080 GHz) wiederholt. Nach den Vorstellungen der Initiatoren, einer amerikanischen Mediengruppe namens Internews, sollen die beiden Programmplätze in den kommenden Jahren zu einem „Balkan-TV“ ausgeweitet werden. Die interessantesten Fernsehbeiträge aus den Regionen Exjugoslawiens und einiger Nachbarstaaten würden auf diesen Frequenzen wiederholt oder zeitgleich übernommen, durch Ausnutzung der Untertonfrequenzen in der Originalsprache und in Übersetzung in fünf weitere Sprachen.

Ob ein solches Projekt Zukunft haben wird, ist aus mehreren Gründen fraglich: An Propagandasendern herrscht im exjugoslawischen Raum kein Mangel. Schon seit Anfang des Bruderkrieges vor fünf Jahren strahlt Serbien ein Satellitenprogramm aus (Eutelsat 7 Grad Ost, 11.178 GHz), Kroatien hat mittlerweile ein umfangreiches Europaprogramm (Eutelsat 16 Grad Ost, 10.987 GHz), und seit Anfang des Jahres flimmern nachts auch Testprogramme des bosnischen Fernsehens über Eutelsat (16 Grad Ost, 11.081 GHz). Eine Übernahme dieser Sendungen auf Balkan-TV wäre kaum reizvoll, doch unabhängige Fernsehbilder fehlen im Balkanraum, freie Radios sind rar.

Bisher ist auch jeder Versuch gescheitert, das dünne Netz freier Radios auszuweiten und gegenseitig Programme auszutauschen. Nur aufgrund großzügiger Finanzhilfe des amerikanischen Multimilliardärs George Soros, selbst ungarischer Abstammung, halten sich in Zagreb, Tuzla, Sarajevo, Belgrad und Niš freie Radiomacher über Wasser. Die Open Society/ Soros-Foundation organisiert aus dem fernen Prag die Koordinierung der Gegenöffentlichkeit für das ehemalige Jugoslawien.

Die Kurzwellenfrequenzen des amerikanischen Propagandasenders in den Zeiten des Kalten Krieges, dem einst in München ansässigen Radio Free Europe, dienen seit etwa drei Jahren als Forum kritischer und vor allem pazifistischer Berichterstattung. Um einen störungsfreien Empfang und die Übernahme durch lokale Rundfunkstationen zu gewährleisten, setzen die Prager Radiokoordinatoren rund um die Uhr die Untertonfrequenzen von RTL2 ein (Eutelsat 13 Grad Ost, 11.095 GHz) und fordern alle Radiofreaks auf, diese Frequenz (Ton 8:10 bis 7:74) anzuzapfen und eigene Informationen einzuspeisen.

Das Radiomachen ist im ehemaligen Jugoslawien trotz aller technischer Möglichkeiten noch immer ein gefährlicher Job. Seit Mittwoch muß sich in Zagreb der Journalist Marinko Culic vor Gericht verantworten, da er angeblich „feindliche und unwahre Berichte“ nach Prag überspielte, die dem „Ansehen der Republik Kroatien und ihres Präsidenten Franjo Tudjman geschadet haben“. Dem lokalen Belgrader Fernsehsender Studio-B wurde kürzlich die Sendefrequenz mit der Begründung entzogen: „Die feindselige Propaganda hat ein Ausmaß erreicht, das die Öffentlichkeit irritiert und verunsichert.“

Doch auch in Sarajevo mißtrauen die Politiker kritischen Journalisten. Der lokale Radio- und Fernsehsender Studio 99 wird immer wieder Zielscheibe kleiner fanatischer Moslemgruppen, die auch vor Handgreiflichkeiten und Bombenanschlägen nicht zurückschrecken. Im vergangenen Jahr bezahlten drei bosnische Journalisten ihr Engagement mit dem Leben – ermordet von den eigenen Landsleuten. Karl Gersuny