"Was wäre Fußball ohne die Zuschauer?"

■ Manchester United, englischer Meister und Cupfinalist, hat den Fan konsequent entmündigt. Fußballsoziologe Rogan Taylor über die "Speerspitze einer Marketingstrategie", die das Spiel verkauft

Rogan Taylor ist Leiter der „Football Research Unit“ am Fachbereich Sozialgeschichte der Universität Liverpool und einer der bekanntesten englischen Fußballexperten. Taylor (50) war 1985 Initiator und erster Vorsitzender der „Football Supporters Association“, die sich als Lobby der Fans gegenüber den Klubchefs versteht. „Was wäre ein Pokalfinale in Wembley ohne Publikum?“ pflegt er rhetorisch zu fragen, und er antwortet selbst: „Nichts. Es wäre ein Spiel im Park, wenn auch mit sehr guten Spielern.“

taz: Wie erklärt sich der einzigartige Erfolg von Manchester United beim Merchandising, der kommerziellen Ausbeutung der Anhänger?

Rogan Taylor: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß in den letzten fünf, sechs Jahren in der kommerziellen Entwicklung des Profifußballs eine wahre Revolution stattgefunden hat. Früher hat auch ein Klub wie Manchester United seine Gewinne nur im Kernbereich des Fußballs gemacht, also mit Eintrittsgeldern oder Anzeigen in den Stadionheften. Die entscheidende Entwicklung vollzog sich Ende der achtziger Jahre. Da passierte erstens die Katastrophe im Hillsborough-Stadion von Sheffield mit über 100 Toten. Die Folge waren die Auflagen des Taylor- Report: Die wichtigste betraf die Umwandlung in reine Sitzplatzstadien. Das erforderte einen Kapitalaufwand von über 600 Millionen Pfund (1,5 Milliarden Mark), die zu 60 bis 70 Prozent von den Vereinen aufzubringen waren. Dies ist auch der Hintergrund für die Entwicklung bei United.

Tottenham hatte ähnliches früher versucht, blieb aber erfolglos. Warum konnte es ein paar Jahre später klappen?

Der neue Anlauf fiel in eine Zeit, als dem Fußball neues Geld zufloß, weil das Satellitenfernsehen enorme Summen für die Übertragungsrechte zahlte. Der Murdoch-Sender „Sky TV“ setzte auf Fußball als den wichtigsten dish- driver – als Anreiz zum Kauf von Satellitenschüsseln. Damit begann eine enormer Aufschwung des Fußballs als Medienereignis. Sky TV war zwar nur ein Minderheitenprogramm, aber da die BBC die wichtigsten Spielszenen von Sky kaufte, wurde Fußball weit über die alte Laufkundschaft hinaus populär. Auch bei einer ganz neuen Gruppe: den Frauen.

Und wie brachte man das neue Publikum in die Stadien?

Nach dem Taylor-Report wurde der Umbau der Stadien zu dem bewußten Versuch genutzt, den Fußballmarkt auf andere soziale Schichten auszuweiten. Die Klasse, die den Sport historisch getragen hatte, die normale Arbeiterbevölkerung in den alten Industriezentren, bekam auf einmal ein negatives Image verpaßt. Eine andere soziale Schicht sollte die neuen, mit teurem Geld aufgebesserten Stadien füllen. Das aggressive kommerzielle Konzept von Manchester United war in Wirklichkeit die Speerspitze einer viel breiter angelegten Marketingstrategie.

Warum Manchester United?

United ist ein Klub von weltweiter Ausstrahlung. Und dies seit der Katastrophe von München, bei der 1958 acht Spieler der berühmten „Busby-Babies“ durch einen Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Dadurch wurde ein normaler englischer Klub ohne besondere Geschichte – der damals freilich einen brillanten Trainer und ein junges Team hatte – zu einem der berühmtesten Vereine der Welt.

Was kam hinzu?

Für United war noch wichtiger, daß der Klub in England selbst eine überregionale Ausstrahlung hatte. Gerade damals wurde der englische Norden mit seinen alten Industriestädten, die Stammregion der großen Fußballklubs, durch die dritte industrielle Revolution kaputtgemacht. Viele Menschen wanderten ab, blieben aber Anhänger ihrer alten Klubs. Hinzu kam ein Netz von Fanklubs in ganz Europa und vor allem im gesamten alten Commonwealth.

Dieses Netz wurde kommerziell noch nicht ausgenutzt?

Überhaupt nicht. In krassem Gegensatz zu heute, wo viele Leute das Gefühl haben, daß sie übermäßig ausgebeutet werden. Das belastet vor allem das Verhältnis zu den traditionellen Fans, ohne die diese Vereine niemals hochgekommen wären.

Diese Fans setzen sich heute zur Wehr. Welche Chancen geben Sie den „unabhängigen Anhängern“?

Auch diese Bewegung hat ihren Ursprung in einer Tragödie. Ich meine die von Brüssel 1985. Ich habe damals gleich nach Heysel die „Football Supporters Association“ mitgegründet. Heute gibt es ein ganzes Netzwerk, das eine Art Gegenpropaganda gegen die dominierenden kommerziellen Interessen organisiert.

Getragen von den traditionellen Fans aus der Arbeiterklasse?

Es geht uns tatsächlich auch darum, ein Element der Arbeiterkultur zu verteidigen. Aber es sind nicht nur ältere, sondern auch jüngere Leute, die eine Entwicklung wie bei Manchester United als schlechte Sache sehen. Und zwar nicht nur als schlecht für die Klasse, die als Publikum nicht mehr gefragt ist. Sondern auch als Gefahr für den Fußball. Sie befürchten, daß die Finanzstruktur der neuen Fußballwelt hochgradig vom Fernsehen abhängig ist. Und das hat ein Interesse am Fußball nur insoweit, als der Sport sich den Regeln des Fernsehens fügt. Aber was passiert, wenn dieses Interesse nachläßt und die Vereine die Beziehungen zu ihrem alten Publikum bereits gekappt haben?

In Old Trafford haben die Leute in den executive boxes die Möglichkeit, über einen Tonregler die Geräuschkulisse von draußen hereinzuholen. Für das Produzieren der Geräusche sind die billigen Plätze zuständig.

Absolut richtig. Fußball ist wie kein anderes Vergnügen auf die Beteiligung des Publikums angewiesen. Was wäre ein Pokalfinale in Wembley ohne Publikum? Nichts. Es wäre ein Spiel im Park, wenn auch mit sehr guten Spielern. Wir haben es also mit der ungewöhnlichen Konstellation zu tun: Die Leute, die Tickets kaufen, um das Produkt zu kaufen, tragen entscheidend dazu bei, das Produkt erst herzustellen. Wenn sich das ändert, wenn die Leute passiv werden, sich nur unterhalten lassen wollen statt mitzumachen, ist die Atmosphäre kaputt.

Warum muß man, um Atmosphäre zu schaffen, stehen?

Wenn man sitzt, kann man nicht richtig dabeisein. Und man kann nicht singen. Selbst in der Kirche singt man doch im Stehen. Hinzu kommt, daß man nicht mehr entscheiden kann, wo man sitzt. Was passiert heute an der Liverpooler Anfield Road? Der berühmte „Kop“ war immer die Tribüne für den harten Kern der singenden Fans. Heute sind die Sitze in der Mitte an Abonnenten verkauft. Die Plätze, die in den freien Verkauf kommen, sind alle am Rand. Es gibt kein Zentrum mehr, von wo die Aktion der Menge ausgeht.

Offenbar kann es den Großklubs egal sein, wenn sie dieses alte, singende Publikum verlieren.

Die Geschichte Uniteds in den letzten 25 Jahren zeigt etwas sehr Interessantes: Mitte der 70er Jahre war United in die 2. Division abgestiegen. Aber die Zuschauerzahlen blieben unglaublich hoch. Auswärts hatte United häufig einen größeren Anhang als die Heimmannschaft. In den harten Zeiten hielten diese Leute erst recht zu ihrem Klub und zogen ihn wieder in die erste Liga hoch. Heute denkt man in der Führungsetage von United offenbar: Wir haben diese Art Loyalität nicht mehr nötig. Wir haben soviel Geld, daß wir niemals absteigen werden. Wir können wir uns die Erfolge jederzeit kaufen.

Das Geld kommt immer noch von den Fans: Kinder kaufen teure Trikots und machen zu Tausenden kostenlos Werbung für die Sponsorfirmen der Klubs. Sollte nicht ein Teil des Geldes zurück an die Fanklubs fließen?

Die Manager würden sich über diese Idee totlachen. Die sagen: Wenn wir den Leuten 100 Mark abknöpfen können für das Privileg, daß sie für uns Reklame laufen dürfen, dann wären wir doch verrückt, das Geld nicht zu kassieren. Übrigens sind die meisten Käufer keineswegs Kinder, sondern Männer zwischen 30 und 45 Jahren. Die meisten dieser Trikots haben Größe XXL, da müssen die ganzen Bierbäuche reingehen.

Der FC Liverpool war lange das Gegenmodell: Der ehrliche, traditionelle Klub. Muß Liverpool jetzt nicht aus Konkurrenzgründen denselben Weg einschlagen?

Die großen Klubs haben schon begriffen, daß sie denselben Weg beschreiten müssen. Der FC Liverpool und andere Vereine mußten berücksichtigen, daß ihr Anhang weniger Geld hat als der von United und den großen Londoner Klubs. Sie können also nicht so hohe Eintrittspreise verlangen. Was aber die Liverpool-Fans von Norwegen bis Zypern oder in Australien betrifft, so wird der Klub versuchen, denen möglichst viel Geld abzunehmen. Mit diesem Ziel hat der FC Liverpool jetzt einen eigenen Fanverein mit dem Namen „International Supporters Club“ gegründet.

Interview: Niels Kadritzke