Die Kunst des Erzählens lernen

Waldorfschulen suchen händeringend Lehrer. Doch die Zusatzausbildung ist zeitaufwendig. Die spätere Arbeitsbelastung schreckt ab  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Ernst schaut die Dame mit dem strengen Haarknoten in die Runde. „Eurythmie“, sagt sie und rollt das „R“ genüßlich, „Eurythmie ist eine exemplarische Tiefenerfahrung.“ Die 26 Interessenten, die zu dem Informationsabend des Seminars für Waldorfpädagogik erschienen sind, schweigen und betrachten die kugelige Plastik am Fenster und die Bilder, die nach Rudolf Steiners Farbenlehre entstanden sind. Wer sich zum Waldorflehrer fortbilden will, der muß zu Pinsel und Farbtopf greifen, feuchtem Ton Gestalt verleihen und die Kunst des Erzählens lernen. Am Anfang der Fortbildung üben sich die Teilnehmer vor allem im ganzheitlichen Denken und lernen die „allgemeine Menschenkunde“ der Anthroposophen kennen. Später haben sie Kurse in Entwicklungspsychologie und Didaktik. Und da Waldorfschüler von der ersten bis zur achten Klasse fast ausschließlich von ihrem Klassenlehrer unterrichtet werden, schließt sich ein Querschnitt durch fast alle Unterrichtsfächer an. Dazu kommen zwei kurze Praktika an Waldorfschulen.

Nach der einjährigen Fortbildung können viele Teilnehmer sofort ihren Job antreten. „Die Waldorfschulen suchen händeringend Lehrer“, sagt Lothar Steinmann vom Berliner Seminar für Waldorfpädagogik. 165 Waldorfschulen in Deutschland beschäftigen insgesamt fast 6.000 Lehrer. Pro Jahr müßten die Schulen etwa 750 Lehrer neu einstellen, erklärt Walter Hiller, Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen in Stuttgart: „diesen Bedarf können wir schon heute nicht decken. Und dabei sind 75 Schulen noch im Aufbau, haben also noch nicht einmal den vollen Stellenplan erreicht.“ Besonders groß ist der Bedarf in den naturwissenschaftlichen Fächern, wo selbst an staatlichen Schulen Lehrermangel herrscht. Aber auch Sprachlehrer sind gesucht, weil an Waldorfschulen schon ab der ersten Klasse Fremdsprachen gelernt werden.

Zwar ist die Zusatzqualifikation keine unabdingbare Voraussetzung für eine Anstellung. Die Kollegien von Waldorfschulen entscheiden autonom über Neueinstellungen, und viele Lehrer haben nie eine spezielle Fortbildung gemacht. Immer öfter verlangen die Schulen in solchen Fällen jedoch die Teilnahme an berufsbegleitenden Abendkursen an Waldorfpädagogik, die zwei bis drei Jahre dauern. 1995 besuchten ungefähr 300 Waldorflehrer solche Abendkurse. Die Vollzeit-Fortbildungen der neun waldorfpädagogischen Seminare in Deutschland hatten etwa 850 Teilnehmer, meist Lehrer. Aber auch arbeitslose Diplom- Naturwissenschaftler oder Sozialpädagogen satteln dort auf Waldorflehrer um. Solche Quereinsteiger dürfen jedoch nicht in allen Bundesländern unterrichten. So müssen Privatschullehrer und Lehrer an staatlichen Schulen in Bayern und Berlin gleichwertige Ausbildungen haben. Andere Bundesländer haben lockerere Bestimmungen: „Wir achten zwar auf die fachliche Eignung, aber bei uns stellen die Waldorfschulen letztlich autonom ein“, erklärt Andreas Kuschnereit von der Hamburger Schulverwaltung.

Trotz der guten Berufsaussichten sind die Seminare nicht gerade überlaufen. Selbst das älteste deutsche Waldorfseminar in Stuttgart hat zur Zeit nur 250 Teilnehmer – obwohl es nur dort und in Kassel spezielle Kurse für Oberstufenlehrer gibt. „Vor zehn Jahren hatten wir noch 3.000 Leute, und die konnten wir uns unter vielen Bewerbern aussuchen“, erinnert sich der Leiter des Stuttgarter Seminars, Stefan Leber. „Aber es werden immer weniger. Eigentlich ist das ein erstaunliches Phänomen bei all den arbeitslosen Lehrern.“ Deren Zahl schätzt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf etwa 20.000.

Daß die Seminare für Waldorfpädagogik nicht von arbeitslosen Lehrern gestürmt werden, hat mehrere Gründe. Otto Herz von der GEW sieht die Zurückhaltung als „Indiz, daß man für diese Profession doch eine bestimmte Weltanschauung braucht“. Aber auch die berufliche Belastung von Waldorflehrern schreckt potentiell Interessierte ab. Denn die Arbeit an einer selbstverwalteten Schule ist mit einer Fülle von zusätzlichen Aufgaben verbunden. Zudem verdienen Oberstufenlehrer an Waldorfschulen im Vergleich zu Gymnasiallehrern nicht viel: in der Regel im Monat etwa 1.200 Mark.

Und die Qualifizierung zum Waldorflehrer ist nicht billig, sie kostet monatlich etwa 230 Mark. Auch das zusätzliche Ausbildungsjahr schreckt viele ab. „Ich möchte sehr gern an einer Waldorfschule unterrichten“, meint die Berliner Referendarin Susanne. „Aber ich habe schon zehn Jahre Ausbildung hinter mir.“