Mehr als verquaste Romantik

Die Waldorfschule Magdeburg will weltoffen sein und den Jugendlichen Vertrauen vermitteln  ■ Von Kathi Seefeld

Rhythmisches Stampfen, Klopfen und Klatschen dringt aus dem Zimmer der 10. Klasse: „...und Wodan zum Walde ritten...“. Ein Chor von 15-, 16jährigen steht im Raum und versucht, „Wodan“ und „Walde“ besonders zu betonen. „Achten Sie auf den Stabreim!“ Lehrerin Gabriele Ebeling will es wissen. „Da war dem Fohlen Baldas sein Fuß verrenkt“, schmettert sie ihren SchülerInnen entgegen. Die betonen erneut, diesmal „Fohlen“, „Fuß“ und „verrenkt.“

Nicht eben leichte Kost, die an der Waldorfschule in Magdeburg morgens um acht verabreicht wird. „Das sind die alten Germanen. Christian, machen Sie mit“, fordert Gabriele Ebeling. Christian klatscht eisern im Rhythmus der Verse. Irgendwann ist es genug, die Klasse darf sich setzen.

Verquaste Romantik, die durch christlichen Touch kultische Züge aufweise, beschreibt der Pädagoge Heiner Ullrich, wohin sich viele Waldorfschulen heute flüchteten. Sie würden „verdörflern, doktrinär und unbeweglich bleiben“. Ein Schuh, den man sich in Magdeburg so nicht anziehen will. Sie scheue sich jedenfalls vor keiner Frage ihrer Schüler, betont Gabriele Ebeling. „Wenn ich merke, da ist ein Thema, das die Jugendlichen stark beschäftigt, dann räume ich dafür eine bestimmte Gesprächszeit ein, mache aber irgendwann auch einen Schnitt, um konsequent mit dem Unterricht fortzufahren.“

Herwig trägt ein Stück Lyrik vor. Den Text einer Gruppe, die links ist, wie er sagt. „Es drückt aus, was auf deutschen Straßen so passiert.“ Mitschüler Christian reagiert erwartungsgemäß. „Der Text von Herwig ist Mist, absoluter Dreck“, sagt er. Aber das läßt Lehrerin Gabriele Ebeling nicht gelten. Sie möchte, daß Christian sachlich begründet, warum er Herwigs Text nicht akzeptiert. Christian sucht nach Argumenten: „Also, ich finde ihn nicht gut, weil er nur gegen die zielt, die deutsch denken. Es ist doch normal, wenn mal ein paar Ausländer sterben.“ Die Diskussion ist losgetreten. Mit dem eigentlichen Deutschunterricht hat sie nichts mehr zu tun. Erst als alles gesagt zu sein scheint über Ausländerfeindlichkeit und Heimatverbundenheit, bricht Gabriele Ebeling ab. Zeit, die Hausaufgabe zu erteilen: „Warum lehnen Sie Goethes Gedichte ab? Ich möchte, daß Sie sich dazu Notizen machen.“ Eine Stunde später werden Christian und Herwig, die ganze Klasse gemeinsam mit der Straßenbahn zur Berufsberatung fahren, gemeinsam trotz ihrer verschiedenen Ansichten, stellt Gabriele Ebeling zuversichtlich fest. Aber: Es fehle der zehnten Klasse die an Waldorfschulen angestrebte „Vielzahl der Charaktere“ für gute Diskussionen, meint sie.

An der Waldorfschule in Magdeburg können kaum alle Wünsche um Neuaufnahme berücksichtigt werden. In den obersten Klassenstufen werden inzwischen keine neuen Schüler mehr gemeldet. „Die Schullaufbahn gilt bei den Eltern bereits als festgelegt“, sagt der Religions- und Musiklehrer Chrisward Buchholz.

„Viele Waldorfschulen tun sich schwer, sich von ihrem Konzept so weit zu lösen, daß sie nicht vollkommen an einer audiovisuellen Multikulti-Gesellschaft vorbeileben“, stellte Die Zeit in ihrem neuen Sonderdruck zum Thema Schule fest. Besonders die Neugründungen in den neuen Bundesländern würden sich regelrecht auf eine wirklichkeitsferne Waldorfinsel flüchten, wo Fernsehen, Computer, gar Kassettenrecorder oder Telefone als menschenverderbendes Teufelszeug gelten.

Auch in Magdeburg findet man Computer nur im Büro. Das bedeute jedoch keine prinzipielle Ablehnung, so Buchholz. Computerunterricht werde demnächst in der 11. Klasse durch eine Einführung in verschiedene Informationstechniken vorbereitet. „Wir finden allerdings, daß er in der Mittelstufe verfrüht Denk- und Phantasiekräfte schwächen würde.“

Jede der 21 LehrerInnen der Magdeburger Waldorfschule habe für sich Schwerpunkte bei der Umsetzung der Lehre Steiners festgelegt. Welches Profil der Schule letztlich daraus erwachse, so Buchholz, könne man erst sagen, wenn der Aufbau der Schule abgeschlossen sei. Allein gelassen werde jedenfalls keiner der Schüler, betont Gabriele Ebeling. Auch nicht in der Pubertät, was Waldorfkritiker aufgrund fehlenden Sexualkundeunterrichts immer wieder so sehen. „Da man die Jugendlichen bei uns in einer Klasse über sehr viele Jahre hinweg unterrichtet, erwächst ein Vertrauensverhältnis, das eine staatliche Schule niemals erreichen wird.“

Irgendwann, so Gabriele Ebeling, würden die Jugendlichen sich allerdings von selbst zurückziehen, die Nähe des Lehrers gar nicht mehr wünschen. Daß SchülerInnen, so wie in den alten Bundesländern geschehen, aufgrund von Äußerlichkeiten zum Verlassen der Schule genötigt werden könnten, hält man in Magdeburg für ausgeschlossen, obwohl jeder Pädagoge anders mit rot gefärbten Haaren umgehe. Buchholz fallen sofort die „Ringe durch die Nase“ ein. „Da habe ich gesagt, daß die Sklaven früher so was trugen.“ Die Schüler hätten geantwortet, ja auch Unfreie zu sein. „Da habe ich gemeint, das könne auch bedeuten, daß jemand freiwillig seine Persönlichkeit aufgibt.“