Alltägliche Rechenspiele

An den Freien Waldorfschulen wird kühl kalkuliert  ■ Von Constanze von Bullion

Es ist zum Verzweifeln. Kein Graffiti. Nirgends Gekritzel auf den Bänken. Nicht einmal ein Klospruch. Ist das wirklich eine Berliner Schule? In den sonnengelben Räumen der Waldorfschule Kreuzberg, zwischen hölzernen Instrumenten und Altären voller Wachs und Wolle, ist offenbar die Zeit stehengeblieben. „Konflikte muß man ausdiskutieren“, verrät Geschäftsführer Peter Häuser. So schützt sich die Schule vor Zoff und Zerstörung – und spart viel Geld. Nach der Devise „Man muß nur lange genug reden“ schmeißen Lehrer, Eltern und Schüler den Laden gemeinsam: das Unternehmen Waldorfschule.

Hinter den Kulissen des Kreuzberger Lernidylls regiert kühle Kalkulation. Den „kaufmännischen Betrieb von Schulen“ hält Waldorf-Koordinator Häuser für „dringend geboten“. Daß staatliche Schulen noch immer vor Selbstverwaltung zurückschrecken, sich von praxisfremden Ministerialbeamten den Haushalt führen lassen, ist für ihn „blanker Blödsinn“.

Mit seiner Meinung steht er nicht allein. „Autonome Schule“ heißt das vieldiskutierte Zukunftsprojekt, das die Regelschule aus der Krise retten soll: mehr Basisdemokratie statt Diktat von oben, flexibler Unterricht statt starrer Lehrpläne, vor allem aber selbstbestimmter Umgang mit Geldern. Warum nicht einmal Lehrerposten unbesetzt lassen und dafür handwerkliche Projektkurse anbieten? Wieso Zuschüsse blindlings verpulvern, damit sie im nächsten Jahr nicht gestrichen werden, statt sie für den Neubau zurückzulegen? Alltägliche Rechenspiele in der Waldorfschule. Kann sie der „autonomen Schule“ von morgen Modell stehen?

„Klar kann sie“, meint Detlef Hardorp, Waldorf-Sprecher von Berlin und Brandenburg, „wenn auch in modifizierter Form.“ Die Nase vorn hat die Waldorfschule vor allem in puncto schlanker Verwaltung. Zweieinhalb Büroposten brauchen die Kreuzberger für ihre 370 Kids, Geschäftsführer inklusive. Neben rund 30 Lehrern und Eurythmiefreaks packen auch Mama und Papa bei der Organisation zu – unbezahlt natürlich.

Lean Management erspart den Eltern freilich nicht die saftigen Schulgelder: Durchschnittlich 230 Mark blättern die Kreuzberger Waldörfler jeden Monat für ihr Kind hin. Schulbücher, Klassenfahrten oder Kosten fürs Praktikum auf dem Öko-Bauernhof nicht mitgerechnet. „Da kommt einiges zusammen“, weiß Geschäftsführer Häuser. Elternspenden hin oder her – in der Schulkasse gähnt ein großes Loch. Denn den Kreuzberger Anthroposophen fehlen Chemie- und Physiksaal. Die aber müssen her, wenn 1997 der erste Jahrgang, mit dem das Aufbauprojekt 1985 losgelegt hat, zum Abitur antritt. Ohne Bunsenbrenner keine staatliche Anerkennung. Und ohne Anerkennung keine Schule. Rund 12 Millionen Mark soll ein geplanter Neubau kosten, etwa die Hälfte wird wohl aus Lotto-Töpfen finanziert. Woher der Rest kommt, weiß niemand.

Zu verschenken hat auch die Bochumer Anthroposophenbank GLS („Geben Leihen Schenken“) nichts. Sie gab nur kurzfristige Kleinkredite. „Wir müssen zaubern“, meint ungerührt der Geschäftsführer. Volles Unternehmerrisiko: bei Waldorfs nichts Besonderes.

Auf Rettung durch Vater Staat können die Kreuzberger Anthros nicht zählen. Laut Berliner Privatschulgesetz übernimmt der Fiskus für nichtstaatliche Schulen im Aufbau 85 Prozent der ausgegebenenen Personalkosten. Auf Sach- und Baukosten bleiben die freien Träger sitzen. Der Kampf um die Zuschüsse, weiß Walter Hiller vom Bund freier Waldorfschulen in Stuttgart, „ist seit eh und je ein Gezackere“. In jedem Bundesland gelten andere Sätze, in Sachsen zog man deshalb sogar vor den Kadi.

Wo einheitliche Förderung nicht in Sicht ist, müssen unkonventionelle Finanzierungsmodelle her. „Geld ist materialisierter Geist“, schrieb schließlich schon Anthroposophen-Papst Rudolf Steiner. Und ließ sich 1919 seine erste Schule von Emil Molt, dem Boß der Zigarettenfirma Waldorf- Astoria, bezahlen.

Sponsoring und Werbemillionen, Profit für die Schule durch marktorientierte Produktion? In Kreuzberg hätte man nichts gegen einen warmen Regen aus der Industrie: „Vielleicht nicht gerade von einem Rüstungskonzern.“ Vorstellen könnte man sich auch, im eigenen Handwerksbetrieb Waren zu produzieren und zu verkaufen. Nur nebenbei allerdings, meint Geschäftsführer Häuser, „sonst kommt der Unterricht zu kurz“.

Ob solche progressiven Ideen allerdings Chancen hätten, durch den Dschungel von Lehrerkonferenzen und Elterngruppen zu kommen, ist fraglich. In der Waldorfschule, die sich rühmt, „völlig ohne Hierarchie“ auszukommen, wo Erzieher auch über ihre eigenen Gehälter und den Schulhaushalt befinden, sind schnelle Entscheidungen Mangelware. Häuser weiß: „Da ist sehr viel Arbeit, sehr viel Motivation und Kommunikation nötig.“ Zu deutsch: Diskussionen ohne Ende.

Basisdemokratie der Waldorfschule als Modell für die autonome Regelschule? Kritiker sind skeptisch. So beklagt die bündnisgrüne Berliner Ex-Senatorin Sibylle Volkholz die mickrigen Mitbestimmungsrechte der Basis. „Ein Elternbeirat mit eindeutigen Interventionsmöglichkeiten existiert nicht“, gibt auch Walter Hiller vom Bund Freier Waldorfschulen in Stuttgart zu. Und selbst eine gewählte Schülervertretung ist an Waldorfschulen unbekannt. Weil alle immer mit allen über alles reden können? Ein paar Graffiti an der blitzsauberen Schulwand könnten jedenfalls nicht schaden.