Schule, die die Welt verbessert

■ Die Waldorfschulen erproben seit mehr als 75 Jahren ein recht autonomes Schulmodell. Ihre Pädagogik hat sich seitdem vielfältig weiterentwickelt

Auf den ersten Blick gesehen, ist das pädagogische Reizthema „Autonomie der Einzelschule“ für die Waldorfschulen ein alter Hut. Rudolf Steiner wollte Schulen aus lokaler Initiative, verantwortet von Lehrern und Eltern in autonomer Selbstverwaltung. Waldorfschulen haben keinen Direktor, und im Prinzip arbeitet jede von ihnen nach eigenem Programm. Unter den Schulen der Reformpädagogik haben sie das profilierteste Sozialmodell und – mit mehr als 700 Schulen, über 1.000 Kindergärten in aller Welt – auch die breiteste praktische Erfahrung.

Aber sind Waldorfschulen wirklich so frei und autonom, wie sie nach dem Programm ihres Gründers sein sollten? Werden sie nicht – möglicherweise mehr als die anderen Reformschulen – von erstarrten Traditionen regiert, von zentralistischen Tendenzen und Glaubenszwängen im eigenen Raum? An einschlägiger Kritik herrscht jedenfalls kein Mangel. Der Dauerstreß der Selbstverwaltung, der Wandel der Wertvorstellungen, soziale Unsicherheiten, die Ansprüche der „neuen Kinder“: das alles macht es schwer, die Bedeutung von Steiners Ideen für die Pädagogik im allgemeinen einzuschätzen. Drei Dinge immerhin lassen sich als Ausgangspunkt für einen fairen Dialog über Waldorfschulen festhalten.

Erstens: Die Waldorfpädagogik ist seit dem Tod Steiners 1925 nicht stehengeblieben. Sie hat in England, in der Schweiz, in Skandinavien, in den USA, nach dem Verbot in der Zeit des Nationalsozialismus in Holland und Deutschland, seit 1989 in fast allen osteuropäischen Ländern unterschiedlichste Schulen hervorgebracht. In Deutschland gibt es neben dreizügigen Großstadtschulen mit mehr als tausend Schülern familiär organisierte Kleinstschulen im ländlichen Raum. Es gibt Waldorfschulen mit Hilfsklassen oder einem integrierten Förderklassenzug, Wal-

dorfschulen humanistisch-konservativen Stils mit eher gymnasial orientiertem Lehrplan, daneben andere, die sich um die Integration praktischen Lernens bemühen. Zum Beispiel durch angegliederte Lehrwerkstätten oder eine verbindliche Berufs-Grundausbildung während der Schulzeit. Schließlich bestehen in der Selbstverwaltung Unterschiede: orthodoxe, zur Erstarrung neigende Strukturen mit de facto monarchischer Prägung neben beweglichen, liberalen Ansätzen. Waldorfschulen sind bemerkenswert vielgestaltig.

Zweitens: Waldorfpädagogik besteht nicht im Nachbeten von Steiner-Texten. Sie ist auch theoretisch hochgradig differenziert. Besonders die von den Waldorfschulen kultivierte phänomenologische Naturwissenschaft nach dem Vorbild Goethes hat nach dem Tode Steiners beträchtliche Fortschritte gemacht. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu so gut wie allen Spezialfragen des Curriculums und des praktischen pädagogischen Lebens der Waldorfschulen.

Drittens: Zusammen mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der anthroposophisch orientierten Alternativmedizin ist die Waldorfpädagogik ein wichtiger Faktor des ökologischen Fortschritts. Vor allem in den ersten Schuljahren wird den Schülern durch die Bilderwelt der Märchen und Mythen ein intensives Interesse für die Geheimnisse des Kosmos vermittelt. Das kann sich im Verlauf der Schulzeit in ein philosophisches, wissenschaftliches und auch praktisches Interesse am sinnvollem Umgang mit der Natur verwandeln – ohne dabei in Technikfeindlichkeit zu verfallen. Ein landwirtschaftliches, ein Industrie- oder Sozialpraktikum gehört inzwischen fast überall zum Oberstufenlehrplan. Und da alles, was mit effizienter Umweltpolitik zu tun hat, den Interessen einer etablierten Staatsverwaltung ebenso entgegensteht wie den Interessen des profitorientierten Großkapitals, sind Steiners Ideen über ein von Staat und Wirtschaft befreites „Geistesleben“ politisch aktueller denn je. Wenn die Waldorfschulen für die Autonomie der Einzelschule eintreten, sind sie deshalb nicht nur in schulpädagogischer Hinsicht bemerkenswert. Sie zeigen, daß man auch heute noch durch Schule die Welt verbessern kann: auf dem Wege geistiger Autonomie. Johannes Kiersch

Der Autor ist Waldorflehrer und arbeitet seit 1973 in der Lehrerbildung am Institut für Waldorfpädagogik in Witten/Ruhr.