Cannes Cannes
: Von Höfen und Fallbeilen

■ In Lecontes Film „Ridicule“ rettet ein guter Witz den Kopf

Es ist ein seltsamer, nicht ungeschickter Schachzug, das Festival mit einem Film über die Lächerlichkeit zu eröffnen. Patrice Lecontes „Ridicule“ spielt im vorrevolutionären Frankreich, am Hof des Königs Ludwig XVI. Der Film bezieht einen Gutteil seiner Dramatik daraus, daß wir wissen, daß die Tage dieser Herrschaften gezählt sind, und daß man, während sie tuscheln, sich pudern, promenieren, schon das Fallbeil sausen hört.

Versailles erscheint als eine Börse der Titel und Privilegien, in die uns, ähnlich wie in „Wall Street“, ein Unkorrumpierter einführt. Er heißt Grégoire Ponceludon de Malavoy und entstammt einer alten provencalischen Familie, deren Ländereien im Schlamm versunken sind. Die Bauern sterben am Fleckfieber, und so will er beim König Hilfe für das Trockenlegen der Sümpfe erbitten. Lächerlich? Er wird vorgelassen, weil er „Esprit“ besitzt, eine Währung, mit der man in Versailles weit kommt. Alle haben den gleichen Alptraum: neben dem Scharfrichter zu sitzen und um eine schlagfertige Antwort verlegen zu sein. Man sieht: eine Keimform der bürgerlichen Meritokratie dämmert hier herauf. Peinlichkeit kann ja nur dann bedrohlich werden, wenn Leistung und nicht Herkunft entscheiden. Voltaire spukt in den Köpfen herum, von Rousseau weiß de Malavoy nicht erst, als er sich in die Tochter des Hofarztes verliebt, die mit einem grotesken Taucherkostüm biologische Forschungen betreibt – lächerlich?

Ein interessantes Signal für ein Festival, das sich gegen Verdächtigungen aus den Reihen der gestrengen französischen Cineasten wehren muß, gefälligen Manierismen aufzusitzen. Die Runde ging eindeutig an das Festival: Von gutem Witz kann alles abhängen, sogar die Zukunft des europäischen Kinos.

Als Hofhaltung erscheint auch das Porträt von Andy Warhols Factory in einem Film über Valerie Solanas, die Frau, die Andy Warhol im Juni 1968 anschoß. Solanas, die hier in einer Wahnsinns-Performance von Lili Taylor gespielt wird, war die Autorin des berühmten „Scum- Manifesto“, in dem nachgewiesen wird, daß Männer aus biologischen Gründen an allem schuld sind, daß sie ausgerottet gehören und daß es keinen Grund gibt, Nachkommen zu zeugen. Es kann niemanden überraschen, daß sie zu einer lesbischen Ikone wurde.

Die Regisseurin Mary Harron hatte Zugang zu den wichtigsten Materialien, unter anderem dem Tagebuch von Candy-Darling, Warhols Lieblingstranse, bei der Solanas eine Weile wohnte. Leconte bringt dem absolutistischen Hof sehr viel mehr Gnade entgegen als Harron der Factory: Warhol ist ein narzißtischer Leisetreter, der keine Gnade mit den Motten kennt, die ihn umschwirren; Morrissey & Co sind dekadente, herzlose Schwule, die nur darauf warten, das demokratische Ideal der Pop-art an ein paar schöne Glasschreibtische in der Upper West Side zu verraten, wo Solanas schließlich auftaucht wie die Göttin Authentizität, um Warhol durch Verletzung wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Alle Ressentiments finden hier Unterschlupf: gegen die Nachkriegskunst, das Kopieren (Solanas tippt und klebt ihre Manuskripte selbst) und natürlich gegen Männer.

Eine andere Form von Familiensuche sah man bei Mike Leighs „Secrets and Lies“, dessen Protagonisten, wie immer, in uralten Dramen verfangene Proleten sind. Leider findet er ihre Tränen, obwohl er gute Gründe für sie liefert, auch immer ein bißchen – lächerlich. Mariam Niroumand