Wo ist hier die Grenze?

■ Der australische Philosoph Peter Singer über seinen Begriff des "subjektiven Lebensinteresses", über die Folgen des utilitaristischen Glücksbegriffs und den Vorwurf, seine Thesen stünden in der Tradition nationalso

Herr Singer, Sie vertreten radikale Ansichten im Grenzbereich der ethischen Diskussion. Verstehen Sie die heftigen Reaktionen von seiten Behinderter auf Ihre Thesen zur moralischen Legitimität der Tötung schwerstgeschädigter Neugeborener?

Peter Singer: Ich hätte das sicherlich bedenken müssen. Aber ich muß zugeben, als ich „Praktische Ethik“ und „Muß dieses Kind am Leben bleiben?“ schrieb, konnte ich mir solche Reaktionen nicht vorstellen. Ich dachte, lediglich Abtreibungsgegner würden sehr stark gegen meine Ideen opponieren. Im englischen Sprachraum gab und gibt es keine Proteste. Daß es so weit gehen würde, daß man mich hier in Deutschland am Reden hindert, hat mich überrascht.

Ihr zentrales Kriterium des „subjektiven Lebensinteresses“ ist zwar unabhängig von der Frage „behindert“ oder „nicht behindert“. Müssen Behinderte aber nicht zu Recht befürchten, Ihre ethischen Kategorien könnten wieder Selektionsüberlegungen zur Folge haben?

Würde das geschehen, spräche ich mich entschieden dagegen aus.

In der deutschen Übersetzung von „Praktische Ethik“ taucht der Begriff „lebenswertes Leben“ auf. Wissen Sie nicht, welche Assoziationen dadurch in Deutschland geweckt werden?

Auf englisch heißt es „a live worth living“ beziehungsweise „a live not worth living“. Das hat nicht diesen Naziklang wie „lebenswertes“ oder „lebensunwertes“ Leben. Dieser Ausdruck hat bei mir den Sinn, daß ein Mensch selbst seinem Leben keinen Lebenswert mehr zumißt. Der Naziausdruck sagt, daß das Volk, der arische Gedanke oder der Führer den Lebenswert festlegen. Das ist ein ganz anderer Gedanke. Aber ich muß sagen, es war vielleicht ein Fehler des ursprünglichen Übersetzers von „Praktische Ethik“, daß er diesen Ausdruck benutzte. Und ich habe die deutsche Übersetzung wohl nicht so sorgfältig überprüft, wie das nötig gewesen wäre. Ich dachte, daß ich mit meinem nicht sehr guten Deutsch einen professionellen Übersetzer nicht würde verbessern können.

Können Sie ein Beispiel für die persönliche Entscheidung geben, ein Leben sei nicht mehr lebenswert?

Wenn jemand zum Beispiel an Krebs leidet und ab einem bestimmten Punkt sagt: Ich habe starke Schmerzen und weiß, ich habe nur noch einen Monat zu leben und möchte von der aktiven Sterbehilfe Gebrauch machen.

Sie sagen, ein Neugeborenes entwickle erst einen Monat nach der Geburt ein subjektives Lebensinteresse. Die Frage, ob man es sterben lassen oder gar aktiv töten dürfe, stelle sich bis dahin gar nicht. Da wird Ihnen von so gut wie allen Fachleuten vehement widersprochen. Der Rechtsphilosoph und Strafrechtler Reinhard Merkel (vgl. taz vom 7.Mai) sagt, da es nicht zweifelsfrei zu klären ist, ob das Neugeborene dieses subjektive Lebensinteresse nicht hat, gestehen wir ihm sogar schon vor der Geburt ein nicht hinterfragbares Lebensrecht zu. Was meinen Sie dazu?

Wenn ich alles zusammennehme, was ich gelesen habe, dann ist meine Grenze von einem Monat schon sehr früh gelegt. Ich weiß nicht, warum Merkel meint, daß es da Zweifel gibt. Wenn er einen Beweis hat, würde ich natürlich meine Meinung ändern.

Müßten Sie den Begriff des subjektiven Lebensinteresses nicht sogar grundsätzlich in Frage stellen?

Und welches Unterscheidungskriterium zwischen einem Wesen, das ein Recht auf Leben, und einem, das kein Recht auf Leben hat, sollte man ansonsten vorschlagen?

Ich würde anders fragen. Gibt es tatsächlich Anhaltspunkte, die es Ihnen erlauben, dieses Lebensinteresse festzustellen?

Es gibt natürlich eine Grauzone, und ich ziehe nicht deshalb einen Monat nach der Geburt eine Grenze, weil ich wirklich glaube, daß jedes Kleinkind schon einen Monat nach der Geburt ein subjektives Lebensinteresse hat. Das ist eher eine sehr konservative Grenze. Sicher kann man wahrscheinlich nur sagen, daß sich das subjektive Lebensinteresse im ersten Lebensjahr, vielleicht in den ersten sechs Monaten bildet.

Ich frage noch einmal: Welche Kriterien haben Sie für diese Entscheidung?

Selbstbewußtsein. Daß man sich selbst als Wesen erkennt, das gestern so war, wie es morgen sein wird.

Und wie ist das beobachtbar? Stützen Sie sich da nur auf Ihre eigene Wahrnehmung?

Nein. Es gibt Wissenschaftler, die das in verschiedenen Kontexten mit Kleinkindern, aber auch mit Tieren studieren. Jane Goddal zum Beispiel hat jahrelang Schimpansen beobachtet und ist sicher, daß sie Selbstbewußtsein haben, weil sie zum Beispiel für sich Pläne machen.

Ihre Behauptung beruht ja darauf, daß es tatsächlich eindeutige und beobachtbare Kriterien gibt. Der Kongreß in Heidelberg, zu dem Sie ein- und wieder ausgeladen wurden, beschäftigte sich mit der Vermutung, sogar die wissenschaftliche Erkenntnis könnte eine Fiktion des jeweiligen Wissenschaftlers sein. Die empirische Nachprüfbarkeit selbst ist in Verdacht geraten. Muß man da nicht im Zusammenhang solcher fundamentaler ethischer Fragestellungen vorsichtiger argumentieren?

Ich bin kein Relativist in der Ethik. Wenn alles Fiktion wäre, könnte man ja auch jeweils einen anderen Schluß ziehen. Dann wäre jede Grenzziehung möglich, wir könnten alles machen und behaupten. Natürlich gibt es Fiktionen. Ich glaube aber auch, daß es so etwas wie „wahr“ und „nicht wahr“ gibt, und daß man beides unterscheiden muß.

Noch einmal nachgefragt: Ist Selbstbewußtsein das einzige Kriterium ihres Personenbegriffes?

Ja.

Haben Sie manchmal Zweifel, Ihr Begriff der Person könnte zu eng gefaßt sein?

Ja, ich habe natürlich Zweifel. Ein Philosoph soll Zweifel haben. Aber man muß verstehen, was ich mit meinem Begriff der Person und dem daraus abgeleiteten Recht auf Leben meine. Konventionell sagen wir, alle menschlichen Wesen haben ein Recht auf Leben. Das finde ich falsch. Hat man wie ich akzeptiert, daß die Grenze unserer Spezies keine moralisch bedeutsame Grenze ist, steht man sofort vor der Frage, ob es nicht grundsätzlich genauso moralisch falsch ist, ein Tier zu schlachten, wie das bei einem Menschen falsch ist. Würde man wie ich diese weitreichende Konsequenz ziehen, müßte man Massentierhaltung und -schlachtung sowie massenhafte Tierversuche auch als eine Art Holocaust betrachten. Diese Konsequenz wird aber nicht gezogen. Dann muß man doch fragen, welche andere bedeutsame moralische Grenze es gibt. Wo liegt der Unterschied zwischen einem Wesen mit einem Recht auf Leben, und einem, das keines hat? Sehen Sie doch zum Beispiel, was ein Schwein im erwachsenen Alter von sechs Monaten alles kann und wie es sich verhält. Und wie ein Säugling, der eine Woche alt ist, sich verhält. Ein Schwein ist im Vergleich mit dem Säugling ein autonomes Tier, hat Erinnerung und verfolgt Zwecke. Ein Säugling von einer Woche nicht.

Könnte aber der Effekt solcher Überlegungen nicht sein, daß sich die Inhumanität unseres Verhaltens gegenüber Tieren auch auf unser Verhalten gegen Menschen ausweitet?

Diese Gefahr kann ich nicht sicher ausschließen. Würde sich das aber abzeichnen, würde ich alles mir Mögliche versuchen, es zu verhindern. Ich habe meine Arbeit immer in der Hoffnung gemacht, daß sich die Basis unseres ethischen Verhaltens verbreitert und nicht verengt. Aber vielleicht bin ich da zu optimistisch.

In „Praktische Ethik“ sagen Sie sinngemäß, ein Leben nach moralischen Maßstäben sei nur dann möglich, wenn ein Mensch die eigene Lebensweise rechtfertigen kann. Was machen Sie mit all denjenigen, die nicht verbal versiert ihre Handlungen rechtfertigen können? Sind die etwa nicht in der Lage, ein Leben nach moralischen Maßstäben zu führen?

Ich sage doch nur, daß ich mit solchen Menschen keine ethische Diskussion führen kann, da sie ihr Lebensinteresse nicht formulieren und rechtfertigen können.

Der Heidelberger Mediziner Fritz B. Simon, Mitveranstalter des Kongresses, zu dem Sie ein- und wieder ausgeladen wurden, sagt: „Wenn jemand sagt, daß Singer eine Denktradition vertritt, die zu der Haltung der Ärzte im Nationalsozialismus geführt hat, dann ist das für mich ein sehr ernsthafter Einwand.“ Was sagen Sie dazu?

Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe.

Er will wohl sagen, hinter Ihren logischen Schlußfolgerungen stehe ein kalter Rationalismus, der auch für die Haltung von Ärzten im Nationalsozialismus verantwortlich war.

Das ist für mich historisch völlig falsch. Göring sagte: Ich denke mit meinem Blut. Die Nationalsozialisten setzten doch eher auf romantische Gefühle. Rationalität und Aufklärung fanden sie doch widerlich.

Könnte nicht doch etwas dran sein, wenn Simon mit „Haltung“ eine Attitüde des Wissenschaftlers meint, der sein Forschungsobjekt – in Ihrem Falle der moralisch handelnde Mensch – sachlich analysiert, ethische Prämissen formuliert, sich aber nicht um die Folgen seiner Prämissen kümmert?

Ich verstehe, wenn man sagt, daß ich kalt und rational denke. Was das mit der Haltung von Naziärzten zu tun haben soll, kann ich nicht nachvollziehen.

Ihr Grundprinzip besteht doch darin, daß sich das Lebensinteresse immer nur im Kontext der betroffenen Person bestimmen läßt. An einer Stelle Ihrer „Praktischen Ethik“ sagen sie aber: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.“ Verletzen Sie da nicht dieses Prinzip? Setzen Sie nicht das Lebensinteresse eines Individuums in Relation zum Lebensinteresse eines anderen und führen eine existentielle Güterabwägung durch?

Ich weiß, daß dieser Satz sehr oft zitiert wird. Man muß ihn aber im Kontext sehen, und da sage ich nur: Wenn man Glück utilitaristisch definiert, dann hat das diese Konsequenz. Das bedeutet allerdings nicht, daß man nur diese Glückssummenkalkulation als Basis der Behandlung behinderter Kleinkinder nehmen darf.

Verstehen Sie meine Frage? Ich frage doch, ob dieser Satz nicht tatsächlich ermöglicht, daß Leben gegeneinander abgewogen und am Ende selektiert wird?

Ja, wenn man zum Beispiel davon ausgehen würde, daß der Staat solch eine Glückssummenkalkulation durchführt. Das allerdings würde ich strikt ablehnen.

Welchen Sinn hat dieser Satz Ihrer Meinung nach?

Den Sinn, das aus einer bekannten utilitaristischen Theorie eine Konsequenz gezogen wird. Wenn man ein Buch wie „Praktische Ethik“ schreibt, muß man solche theoretischen Ansätze präsentieren und Konsequenzen ziehen.

Der Erlanger Rechtsmediziner und Vorsitzende der Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer, Hans-Bernhard Wuermeling, hat während des Heidelberger Kongresses bedauert, daß er durch Ihre Ausladung nicht mit Ihnen streiten kann. Er kritisiert, daß Sie für bestimmte klinische Situationen keine Unterscheidung mehr zwischen Sterbenlassen und Töten machen. Was sagen Sie dazu?

Ich würde sehr gerne mit ihm darüber diskutieren, daß Sterbenlassen und Töten moralisch gleich zu behandeln sind. Es ist moralisch völlig gleichbedeutend, wenn ein Arzt nach Absprache mit den Eltern sagt, dieses Kleinkind hat zum Beispiel aufgrund der künstlichen Beatmung eine Lungenentzündung, ich gebe ihm kein Antibiotikum mehr, damit es sterben kann. Oder wenn er sagt, das Kind hat jetzt dieses Problem, also greife ich ein, damit das Kind schnell sterben kann. Hans-Bernhard Wuermeling muß da widersprechen, weil er eine religiöse Ansicht und absolute moralische Normen vertritt, die die Unterscheidung zwingend vorschreiben. Für mich gibt es keine absoluten moralischen Normen.

Müssen Sie nicht, selbst wenn Sie diese Unterscheidung ablehnen, bedenken, daß es im Handeln der Ärzte eine Grenze gibt? Daß sie sagen: Passiv sterben lassen kann ich gerade noch, aktiv töten kann ich auf keinen Fall?

Das ist doch gar nicht der Punkt. Es gibt Ärzte, die verspüren diese Unterscheidung und wollen das nicht machen. Und es gibt andere, die keinen Unterschied sehen. Sie müssen doch nur über die Grenze nach Holland gehen, und sie haben diese beiden Fälle. Achtzig Prozent der holländischen Ärzte sind bereit, unter bestimmten Umständen die Todesspritze zu geben. In Deutschland gibt es eine Barriere, das hat auch mit Tradition und Gewohnheit zu tun. In den Niederlanden geht man davon aus, daß es ein Recht des Patienten gibt, so etwas zu verlangen.

Gibt es für sich keinen Fall, in dem Sie sagen würden: Es ist gut und richtig, diese spezielle Frage zu tabuisieren, weil die Folgen verheerend sein könnten, wenn wir sie nicht tabuisieren?

Nein, nur wenn man einen kirchlichen Standpunkt vertritt und sagt, der Mensch darf nicht denken, sondern muß annehmen, was die Kirche sagt. Wenn man eine Gesellschaft mit Menschen will, die selbständig denken, kann man das nicht sagen. Es gibt viele Menschen, deren engste Verwandte an Krebs sterben und die es unmöglich finden, daß gesagt wird: Wenn zum Beispiel Ihr Großvater einen Herzanfall bekommt, dann werden wir natürlich nicht mehr medizinisch eingreifen. Bekommt er keinen Herzanfall, muß er leider noch sechs Wochen leiden. Interview: Jürgen Berger