Leiden, Mut und Heldentum

Das Rauschen schwillt zum Getöse an, Schüsse knallen, Explosionen folgen. Angstschreie und Gestöhn vom Band – der nachinszenierte Tod von 800 Deutschen zum 80. Jahrestag der Schlacht  ■ Aus Verdun Dorothea Hahn

Die sechs Männer haben sich auf grasüberwachsene Felsbrocken vor dem Eingang des Forts gestellt. Jeder mit einem Stapel DIN- A-4-Blätter in der Hand. Scheinwerfer tauchen sie in taghelles Licht. In dem Nachtdunkel ringsum zeichnen sich die Krater einer umgewühlten Landschaft ab. Über die Mikrofone, die sich die Männer an ihre Revers geheftet haben, streicht ein kalter Wind. Der Verstärker verwandelt ihn in ein lautes Rauschen, das aus den Boxen schallt.

Um fünf Uhr schwillt das Rauschen zum Getöse an. Schüsse knallen, Explosionen folgen. Männerstimmen vom Band stoßen Angstschreie und Gestöhn aus: „Raus hier!“ schreit einer. „Tod“, ein anderer. Auf deutsch. Als das Getöse verstummt, übernehmen die Männer auf den Felsbrocken das Geschehen. Einer beginnt vom Blatt abzulesen, ein zweiter setzt fort. Abwechselnd auf französisch und deutsch erzählen sie die tragische Episode, die sich am 8.Mai 1916 in dem von Deutschen besetzten Fort Douaumont vor Verdun zugetragen hat. Sie sprechen in der Gegenwart – wie üblich, wenn in Verdun von jener Schlacht die Rede ist. Die historische Rekonstruktion mischen sie mit Texten von Arnold Zweig, der das Ereignis literarisch verarbeitet hat.

Seit Februar 1916 hatten die Truppen des Kronprinzen in dem gepanzerten Fort ein Feldlazarett eingerichtet, dazu ein Munitionslager und eine Etappe für Soldaten, die zur Front oder zurück mußten. Die mehrstöckige unterirdische Anlage war übervoll, als es – möglicherweise durch die Unachtsamkeit eines Soldaten – in jener Nacht zu einer Explosion im Munitionslager kam. Mindestens 800 Männer verloren in Feuer, Giftgas und einstürzenden Gemäuern ihr Leben. Wer die Flucht schaffte, riskierte, draußen französischen Angriffen zum Opfer zu fallen.

Zum 80. Jahrestag hat der von dem pensionierten Oberst Leon Rodier präsidierte Gedächtnisverein für die Schlacht von Verdun, zusammen mit Studenten von der Universität Landau, am Jahrestag der Episode dieses „Verweilen bei der Geschichte“ organisiert. Zur Originalzeit – die damals in Frankreich fünf und in Deutschland sechs Uhr war – und am Originalschauplatz. Statt der sonst bei Jahrestagen von la Grande Guerre üblichen Paraden und patriotischen Ansprachen will der Verein die Erinnerung „humanisieren“. Das „Leiden, der Mut und das Heldentum“ der Menschen in der Schlacht sollen in den Vordergrund treten.

Knapp 200 Zuschauer – darunter viele ältere Männer – haben sich zu der frühen Stunde eingefunden. Am Ende des Spektakels gehen sie unter der handgeschriebenen Parole am Eingang „Lieber verschüttet als dem Feind ergeben“ hindurch in das im Oktober 1916 von den Franzosen zurückeroberte Fort, um sich bei Glühwein aufzuwärmen.

Der Vater des alten Mannes aus dem Publikum kämpfte im Ersten Weltkrieg, er selbst wurde 1943 von der Gestapo verhaftet, das Dorf seiner Frau wurde von der SS dem Erdboden gleichgemacht. Dann kam jener Tag, acht Jahre nach Kriegsende, als die Tochter eine Brieffreundschaft nach Deutschland beginnen wollte. „Glauben Sie mir: das war hart“, sagt der alte Mann heute. Er ist als Kriegsveteran in einem Verein organisiert. Sein Engagement richtet sich gegen das Vergessen. Er ist „für den Frieden“, „für Europa“ und „für die deutsch-französische Freundschaft“. „Europa“ spricht er besonders laut aus.

Bis zehn Meter Tiefe nur Erde, Metall und Leichen

Die lothringische Landschaft an der Maas hatte viele Male als Durchmarschgebiet gedient, als sie im Februar 1916 Schauplatz der bis dahin größten Schlacht dieses Jahrhunderts wurde. Zehn Monate lang standen sich hier Franzosen und Deutsche gegenüber – jeder Quadratzentimeter Boden war umkämpft. Als sich die Garnisonsstadt Verdun, die der Kaiser in Berlin für das militärische Herz Frankreichs hielt, im Oktober aus der feindlichen Umklammerung befreite, hatte Frankreich seinen letzten militärischen Sieg errungen. Was in den Kriegen danach kam, waren Niederlagen.

La Grande Guerre prägt das Maasland bis heute. „Rote Zone“ wird es genannt, weil sich der Boden bis zu zehn Metern Tiefe zu je einem Drittel aus Erde, Metall und Leichen zusammensetzt. Das Land ist gespickt mit Kriegsdenkmälern, Soldatenfriedhöfen – weiße Kreuze für die Franzosen, schwarze für die Deutschen – und Militärmuseen. Die Landstraße zwischen Bar-le-Duc und Verdun, über die 1916 alle 15 Sekunden ein Laster mit Nachschub für die französische Front rollte, heißt heute Voie Sacrée – Heiliger Weg – und trägt als einzige Nationalstraße keine Nummer.

Die Touristen in der Region – darunter mehrheitlich Franzosen und Deutsche – werden zu den Schauplätzen der Schlachten geleitet. Das 1967 eröffnete Memorial- Museum von Verdun, an der Stelle des zerstörten und nicht wieder aufgebauten Dorfes Fleury, gibt ihnen eine Einführung in die Kriegstechnik. Blitzblank geputzte Granaten, eine „dicke Berta“, Minenwerfer, Fesselballons, ein Modell des ersten flugzeugstationierten Maschinengewehrs dokumentieren den technischen Stand. Fotos und Alltagsobjekte aus den Schützengräben führen in Leben und Sterben der Soldaten ein. In einem Film im Museumsprogramm spricht eine sonore Männerstimme von der „ewigen Frage nach der Widerstandskraft der Menschen“, von der „unsinnigen Hoffnung, zu leben, und der Gewißheit, zu sterben“ und von dem „Heldentum ohne Namen“.

Ein- bis mehrstündige „Themenwanderwege“ durch die lichten Buchen- und Kiefernwälder, die heute statt der im Ersten Weltkrieg verbrannten Eichen im Maasland wachsen, führen zu Unterständen, Schützengräben und Maschinengewehrständen. Auf dem Hügel von Vauquois, im Nordwesten von Verdun, wo einst ein Dorf stand, können Abenteuerlustige sich heute auf kriegskundliche Höhlentour begeben. Ausgestattet mit einem Helm und einer Taschenlampe, werden sie in Stollen geführt, in denen sich zwischen 1916 und 1918 eines der absurdesten Kriegskapitel abspielte. Nachdem Deutsche und Franzosen sich auf dem Hügel auf Rufweite genähert hatten, verlegten sie einen Teil ihrer Kampfaktivitäten unter die Erde. Insgesamt 17 Kilometer Stollen trieben sie unter den Hügel, von dessen Spitze aus die Verbindungswege auf dem flachen Umland leicht zu kontrollieren waren. Am Ende der Gänge zündeten sie jeweils Sprengstoffladungen, so entstanden Hunderte große Bombentrichter, die noch heute das Relief des Hügels prägen.

Knochen, im Beinhaus wie Brennholz gestapelt

Überirdisch lieferten sich Franzosen und Deutsche weiterhin einen Stellungskrieg – zwischen ihren Schützengräben türmten sich Berge stinkender Leichen, die niemand bergen konnte.

„Silence“ steht am Eingang zum Beinhaus von Douaumont, und: „Hut ab!“ Das massige helle Gebäude aus dem Jahr 1923, das einem in die Erde gesteckten Schwert nachempfunden ist, von dem nur der Knauf in die Luft ragt, ist das größte Denkmal für die Schlacht von Verdun. Die Knochen von 130.000 unbekannten Soldaten lagern im Untergeschoß – manche säuberlich an den Wänden aufgereiht, wie Brennholz. Vor dem Beinhaus reichten sich 1984 François Mitterrand und Helmut Kohl die Hand zu ihrer Versöhnungsgeste. Für diesen Jubiläumssommer hat wieder ein französischer Präsident seinen Besuch angesagt. Aus Bonn allerdings gab es bislang noch keine positive Antwort auf die Einladung.

Das offizielle Bonn ist an den Gedächtnisaktivitäten zum 80. Jahrestag der Schlacht von Verdun nicht beteiligt. Die Vorbereitungen lagen allein in französischen Händen – darunter vor allem bei den zahlreichen Veteranenverbänden, dem Ministerium für ehemalige Kämpfer und den örtlichen Honoratioren. Unter anderem halten sie nun ein „Filmfestival über den Großen Krieg“ ab sowie ein Ton-und-Licht-Spektakel unter freiem Himmel. Die ursprünglich geplante Aufführung des Heiner- Müller-Stücks „Gespenster am Toten Mann“ im Verduner Theater Le Quai hingegen findet nicht statt. Nachdem der inzwischen verstorbene deutsche Dramatiker im vergangenen Herbst von dem „Kitsch der Denkmäler, die Länder glorifizieren“ gesprochen und die „Kunst für die Toten“ kritisiert hatte, gingen die Veteranenverbände auf die Barrikaden und sorgten dafür, daß sein Stück abgesetzt und der Autor zur in Verdun unerwünschten Person erklärt wurde.

Offiziell gibt die deutsch-französische Aussöhnung den Ton für die Gedächtnisfeiern an. Und offiziell ist auch längst nicht mehr von eigenen und feindlichen Opfern die Rede. Doch während auf der französischen Seite der Front jeder Unterstand markiert ist, gibt es nicht den geringsten Hinweis auf die Stätten östlicherseits der Frontlinie, die vier Jahre lang deutsch besetzt waren. Nur eine lehmige Spur im Wald führt zum „Bismarck-Lager“ bei Gouraincourt, wo neben einer Betonfabrik für die Bunkerproduktion, schmucken Offiziershäuschen und Mannschaftsunterkünften auch ein Soldatenkino stand. Hierher verirren sich nur Antiquitätenhändler, die nach Erste-Weltkriegs-Trophäen graben. Die Bürgermeister der französischen Dörfer, die vier Jahre lang deutsch besetzt waren, werden bis heute nicht zu allen Gedächtnisfeiern auf der „französischen“ Seite der alten Frontlinie eingeladen.

Das Weltzentrum für den Frieden, das vor 22 Monaten im ehemaligen Bischofspalais in Verdun eröffnete, ist die Ausnahme von der militärisch dominierten Darstellung der Grande Guerre. In den lichtdurchfluteten Räumen erfahren die vor allem jugendlichen Besucher von der Geschichte Europas, von Friedenseinsätzen der UNO und von den Vermittlungsversuchen in Jugoslawien.

Die Kriegsveteranen von Verdun folgen einer anderen Logik. Darin sind Werte wie Ehre, Heldentum und Vaterland intakt geblieben. Am 8.Mai, als das Spektakel „Verweilen bei der Geschichte“ vor dem alten Fort von Douaumont läuft, erklärt der Direktor des Memorials von Verdun, der pensionierte Militär Philippe Sauvagnac, einem Journalisten, das Ereignis, die Explosion in dem deutsch besetzten Fort, sei schlecht ausgewählt und zur Gedächtnisfeier ungeeignet: Es sei „nicht ruhmvoll“ gewesen.