■ Nicholas Lane vom „American Jewish Committee“ über Entschädigung für NS-Opfer und das Buch von J. Goldhagen
: „Ich bin von Kinkel enttäuscht“

taz: Außenminister Kinkel hat in Washington erklärt, daß es keine eigenen Entschädigungszahlungen für die NS-Opfer aus den baltischen Ländern geben wird. Ist dies das Ende der Debatte?

Nicholas Lane: Nein, das darf nicht das Ende sein, weil für die Betroffenen eine Lösung gefunden werden muß. Aber zunächst muß ich sagen, daß ich von der Aussage des Ministers ungemein enttäuscht bin. Dieses Problem darf sich nicht dadurch „erledigen“, daß die Opfer wegsterben. Die, die noch am Leben sind, sind sehr alt, oft krank und in einer extrem schwierigen ökonomischen Lage, in der viele jeden Monat vor der Wahl stehen, entweder die Miete oder Medikamente zu bezahlen.

Wir hatten sehr auf ein konstruktives Angebot seitens der deutschen Regierung gehofft. Die Entschädigungszahlungen sind ihre Verantwortung. Ebenso ist es ihre Verantwortung, jenen Fehler bei den Entschädigungsverhandlungen im Rahmen der deutschen Vereinigung zu korrigieren, der die NS-Opfer im Baltikum in die gegenwärtige Situation gebracht hat. Damals wurden sie an die Stiftungen für NS-Opfer in Rußland und Weißrußland verwiesen – estnische Überlebende sollen demnach ihre Entschädigungsansprüche in Minsk, litauische und lettische NS-Opfer bei der Stiftung in Moskau beantragen. Und das, obwohl die baltischen Staaten längst unabhängig waren.

Man hat also so getan, als würde die Sowjetunion noch existieren – ohne zu bedenken, daß es für NS- Opfer aus den baltischen Staaten nicht hinnehmbar sein kann, in Moskau um eine Entschädigung zu bitten. Für sie muß eine eigene Regelung gefunden werden.

Welche Beweggründe vermuten Sie hinter der Absage des deutschen Außenministers?

Mir sind einige Beweggründe der deutschen Regierung schon klar. In Bonn hat man Angst, Präzedenzfälle zu schaffen, die andere individuelle Entschädigungsansprüche – zum Beispiel in Griechenland – nach sich ziehen könnten. Man steht derzeit unter Sparzwang, und das Finanzministerium fordert fiskalische Disziplin ein. Ich will die finanziellen Probleme des Landes auch nicht unterschätzen und habe Verständnis dafür. Aber jüdischen Überlebenden von NS-Verbrechen im Baltikum abzuverlangen, sie sollten bei einer russischen Stiftung in Moskau einen Antrag auf Entschädigung stellen, entbehrt jeder Logik, wenn man die Geschichte und die gegenwärtigen Spannungen zwischen Rußland und dem Baltikum kennt. Dieser Fehler, der in den ursprünglichen Entschädigungsabkommen mit Rußland und Weißrußland gemacht wurde, könnte leicht und schnell behoben werden – aber niemand in Bonn scheint den politischen Willen dafür aufzubringen.

Sie hatten Außenminister Kinkel im Mai letzten Jahres eine Liste von NS-Opfern übergeben, die bislang keine Entschädigung erhalten haben ...

... dem war ein Treffen mit Kinkel vorausgegangen, in dem wir angeboten hatten, eine solche Liste zusammenzustellen. Er war darauf eingegangen mit den Worten, er wolle sehen, was sich machen läßt. Wir haben 4.500 Namen von NS- Opfern aus den baltischen Staaten, der Slowakei, Tschechien und Rumänien zusammengestellt. Die wurde letztendlich abgelehnt, und der Außenminister reagierte mit der Bemerkung, er habe eigentlich mit einer viel kürzeren Liste gerechnet. Offenbar ging er von der Größenordnung von ein paar hundert Überlebenden im Baltikum und in Tschechien aus.

Von seiten des „American Jewish Committee“ aber können wir nicht manche Länder ein- und andere ausschließen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber allen Betroffenen, die in dieser Situation stecken.

Sehen Sie Chancen für NS-Opfer in Tschechien, demnächst eine Entschädigung aus Deutschland zu erhalten?

Hier geht es um das Problem, daß die Entschädigung von Überlebenden des Holocaust und anderer NS-Verbrechen mit der Entschädigung der nach dem Krieg vertriebenen Sudetendeutschen verknüpft wird. Diese Verknüpfung ist schon allein aus moralischen Gründen nicht zulässig. Entschädigungsansprüche der Sudetendeutschen, die als tschechische Staatsbürger zum Zusammenbruch ihres Landes beigetragen haben, mit Ansprüchen von jüdischen Opfern der Nazis gleichzusetzen ist schlicht indiskutabel.

Es hat von seiten des deutschen Außenministers zwar Äußerungen gegeben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, aber bisher ist das noch nicht geschehen. Ich kann nur hoffen, daß hier die Moral Eingang in die Politik findet – wie das in der deutschen Politik im allgemeinen über die Jahre hinweg ja geschehen ist. Ich habe vollstes Vertrauen, in die deutsche Regierung wie auch die Gesellschaft, was ihr Bekenntnis zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Gefahren von Rechtsextremismus und Antisemitismus betrifft. Deswegen kann ich um so weniger verstehen, warum im Fall von einigen alten, kranken Menschen nichts unternommen wird, deren einziger Fehler es zu sein scheint, daß sie noch am Leben sind. Private Hilfsinitiativen für diese NS-Opfer, die unter anderem von Winni Nachtwei von der Grünen-Fraktion im Bundestag und anderen gegründet worden sind, sind in diesem Zusammenhang vorbildlich. Nur ist es höchst bedauerlich, daß sich die Bundesregierung daran kein Beispiel nimmt.

Was die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust angeht, so wird derzeit in Deutschland und den USA das Buch des US-Politologen Daniel Jonah Goldhagen heftigst debattiert. Außenminister Kinkel hat darauf in seiner Rede vor dem AJC Bezug genommen. Was halten Sie von dem Buch und der Debatte, die es ausgelöst hat?

Ich habe das Buch gelesen, was man vermutlich nicht von allen behaupten kann, die sich an der Diskussion beteiligen. Als gelernter Historiker muß ich sagen: Dieses Buch hat gravierende Fehler und ist schlich keine gute Geschichtsforschung. Goldhagen argumentiert eingleisig und ignoriert komparative Forschungen, die seine These nicht unterstützen, die da lautet: Die Deutschen waren über die letzten 150 Jahre vor der Nazi- Zeit durch einen extremen Antisemitismus so vorgeprägt, daß Hitlers Machtübernahme und der Holocaust gewissermaßen zwangsläufig waren, und die meisten Deutschen in dieser Zeit durchaus bereit gewesen wären, sich aktiv am Massenmord an den Juden zu beteiligen. Diese Argumentation halte ich für falsch und in gewisser Hinsicht auch für unmoralisch.

Mich ärgert dieses Buch und die Art, wie es in den USA als „Blockbuster-Bestseller“, als „revolutionär neue Analyse“ des Holocaust auf den Markt gebracht wird. Vielleicht hat die FAZ recht, wenn sie sagt, dieses Buch sage mehr über den Zustand der akademischen Forschung in den USA aus als über alles andere. Es ist schlechte, aber populär gemachte Geschichtsschreibung, die Fragen aufwirft, die weiter diskutiert werden müssen. Nur beantwortet Goldhagen diese Fragen in einer Weise, die der Diskussion nicht weiterhelfen. Interview: Andrea Böhm, Washington