Indiens Linke wittert Chance zur Macht

Die Kongreßpartei könnte trotz ihrer Niederlage der rechten Wahlsiegerin BJP den Weg an die Regierung verbauen, indem sie eine „säkularistische“ Linksregierung unterstützt  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Indiens Premierminister Narasimha Rao hat gestern nach seiner Wahlniederlage seinen Rücktritt eingereicht. Dies ist nichts weiter als ein Akt verfassungsmäßiger Usanz. Denn führende Kongreßpolitiker schließen die Ränge hinter Rao. Die Niederlage wird von den meisten nicht Rao, sondern der Gesamtführung in die Schuhe geschoben. Falls der 75jährige Politiker nicht selbst das Handtuch wirft, werden ihm daher gute Chancen eingeräumt, als Parteipräsident und Fraktionschef bestätigt zu werden. Wichtige Rivalen haben zudem ihre Sitze verloren. Allerdings brodelt es unter jüngeren Kongreßpolitikern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Rao den Preis für die schwerste Niederlage in der 111jährigen Geschichte der Partei bezahlen muß.

Eine Spaltung der Partei scheint ausgeschlossen, solange Rao den Kongreß anführt. Das wird es vor allem der hindu-nationalistischen BJP, relative Siegerin der Wahl, schwermachen, mit Kongreßüberläufern eine Mehrheit zusammenzubringen. Zwar stellte sie gestern ihren Anspruch auf die Regierungsbildung und machte sich sogleich auf Partnersuche. Doch mit Ausnahme der Wahlallianzen mit kleinen regionalen Parteien, die sich aus wahlarithmetischen Zwecken mit der BJP verbunden haben, bieten nur die großen Regionalparteien aus Andhra Pradesh, Assam und Tamil Nadu die nötigen Sitze. Und sie zeigen eher Lust, zu ihren alten Partnern in der Linksfront zurückzukehren. Die BJP bleibt für das Gros der etablierten Parteien weiterhin politisch „unberührbar“, weil diese ihr Bekenntnis zur religiösen und politischen Toleranz nicht abnehmen.

Das Koalitionsdefizit der BJP katapultiert die Nationale Front/ Linksfront nun plötzlich in die erste Position zur Regierungsbildung. Sie verdankt diese unerwartete Lage dem guten Abschneiden der Kommunisten in Westbengalen und in Kerala sowie des Janata Dal in Karnataka. Allerdings hat auch sie ihre Denkzettel verpaßt bekommen: In Bihar schnitt Janata-Dal-Präsident Laloo Prasad Yadav viel schlechter ab als erwartet. Auch die NF/LF ist daher auf Partner angewiesen, die zusammen mindestens 120 Sitze in eine Zweckheirat einbringen.

Größtes Problem ist das Fehlen einer Führungsfigur

Und dies kann nur die Kongreßpartei tun, die damit von der Verliererin plötzlich wieder zur Königsmacherin aufsteigt. Für die Linke ist aber nicht nur die BJP politisch unberührbar, sondern auch Kongreßführer Narasimha Rao. Der BJP wirft sie die falschen Prinzipien vor; Rao beschuldigt sie, keine zu haben. Die Solidarisierung des Kongresses hinter Rao kompliziert daher eine „säkularistische“ Koalition gegen die BJP. Das könnte dadurch gelöst werden, daß der Kongreß eine NF/LF- Minderheitsregierung toleriert.

Noch schwieriger für eine Regierungsbildung der Linken ist aber das Fehlen einer Persönlichkeit für das Amt des Regierungschefs. Die beiden am häufigsten erwähnten Politiker, der Kongreßdissident V.P. Singh und KP-Führer Jyoti Basu, haben bis jetzt jedes Interesse verneint, und in beiden Fällen ist dies mehr als nur eine taktische Zurückweisung. Der ehemalige Premierminister Singh leidet an Leukämie und gibt sich selbst nur noch eine kurze Lebensspanne. Jyoti Basu, der die Kommunisten in Westbengalen soeben zum fünften Mal zum Sieg geführt hat, ist bereits 83 Jahre alt und herzleidend.

Singh hat statt dessen den indischen Vizepräsidenten K. R. Narayanan ins Spiel gebracht. Er ist ein über die Parteigrenzen hinweg hochangesehener Kongreßpolitiker und zudem kastenlos, was ihn für die Linke zu einer idealen Wahl machen würde. Aber es ist fragwürdig, ob der Vizepräsident die Aussicht auf das Amt des Staatspräsidenten in zwei Jahren aufgeben will für den wackligen Stuhl des Premierministers. Immerhin läßt aufhorchen, daß im heutigen Indien die soziale „Unberührbarkeit“ eine ideale Karrierevoraussetzung ist, während Rao und BJP- Chef Vajpayee neben ihrem politischen Stigma noch das Pech haben, Brahmanen zu sein.