Daß der Herr mein Flehen höret

■ „Angst der Hellen und Friede der Seelen“: Fünf Variationen aus einem jüngst entdeckten Motettenzyklus – ein Konzert des Alsfelder Vokalensembles im Dom

Die „Uraufführung“ des fünfstimmigen Motettenzyklus' „Angst der Hellen und Friede der Seelen“ in Erfurt hatte 1994 vier Stunden gedauert, sie endete damals mit „standing ovations“. Trotzdem tat der Bremer Domkantor Wolfgang Helbich gut daran, jetzt im Dom nur eine kleine Auswahl der sechzehn Vertonungen des Psalmes 116 zu interpretieren, die 1616 im thüringisch-sächsischen Raum entstanden waren. Damals war nämlich der sächsische Hofbeamte Burckhard Großmann wider Erwarten gesund geworden und hatte als Dank die Kompositionen in Auftrag gegeben. Helbich reduzierte in diesem Konzert aufs Prinzip: unterschiedliche ästhetische Realisierungen des gleichen Textes. Das kam der Spannung enorm zugute.

Denn um interessante Vergleiche anzustellen, reichten fünf Motetten vollkommen aus. Sie boten seltene Hör-Erfahrungen: Die Textabschnitte wurden über die Musik völlig verschieden gestaltet und damit interpretiert. Wenn beispielsweise Heinrich Schütz in der ersten Zeile – „Das ist mir lieb, daß der Herr meine Stimme und mein Flehen höret“ – eine kontrapunktische Verschränkung als eher zaghafte Umsetzung der „Stimme“ und des „Flehens“ komponiert oder mit auseinandergerissenen Staccati den Begriff „Angst“ direkt in Musik umsetzt, dann ist das ein ganz anderes Textverständnis als das seines Lehrers Michael Praetorius. Der setzt das Gewicht mit einem kräftigen homophonen Ruf auf „Das ist mir lieb!“

Trifft Schütz seine Formentscheidungen hauptsächlich an bildnerischen Vorstellungen einzelner Wörter, so setzt Praetorius seinen Teilen instrumentale Einleitungen voran, die eine bestimmte Stimmung vorgeben. Mit dem Wechsel von instrumentalen und vokalen Teilen ist er einer der damals modernsten Komponisten. Neben der Expressivität und dem riesigen Halleluja-Melisma von Johann Hermann Schein, der ungemein subtilen und differenzierten Wortausdeutung von Schütz und der kräftigen Klangpracht von Praetorius nehmen sich die Vertonungen von Christoph Demantius und Melchior Franck in ihrer braven Satzkunst recht bescheiden aus, haben ihren Sinn nur noch im Kontext eines solchen Konzertes.

Prächtig sangen zu ihrem 25jährigen Jubiläum vierzig SängerInnen des Alsfelder Vokalensembles – mit Einschränkungen im zum Teil angestrengten und substanzarmen Sopran. Mit geheimnisvollen Klangfarben wartete das Kölner Ensemble „Musica Fiata“ auf. Aus einer musikwissenschaftlichen Sensation, die vor zwanzig Jahren der Fund des einzigen Druckexemplares in Krakau war, wurde nicht unbedingt eine klingende, aber als ein Ereignis darf dieses seltene Konzert schon bezeichnet werden. Ute Schalz-Laurenze