„Behinderung gehört zum Leben dazu“

■ Fachfrauen wollen für eine ganzheitliche, frauenorientierte Beratung mobil machen

Hebammen, Frauenärztinnen sowie Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen und aus Behindertenverbänden haben sich zum „Netzwerk unabhängige Beratung und kritische Information zu vorgeburtlicher Diagnostik“ zusammengeschlossen. Noch im Mai wollen sie ihre politischen Forderungen in Remagen diskutieren. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin Anne Waldschmidt ist eine der Sprecherinnen des Netzwerkes.

taz: Das Netzwerk will die vorgeburtliche Diagnostik zurückdrängen. Warum?

Anne Waldschmidt: Die Diagnostik dient nicht der Frau, sondern eher ihrer Überwachung. Ihr wird über die vorgeburtliche Diagnostik die Schwangerschaft enteignet. Letztendlich geht es darum, daß das „Produkt“ in Ordnung ist: Gesunde Kinder sollen zur Welt kommen, behinderte Kinder werden abgetrieben, wenn der Befund entsprechend ist. Dahinter steckt unserer Meinung nach ein Denken der Machbarkeit und der Selektion, das wir ablehnen.

Wie wollen Sie eingreifen?

Heute werden die schwangeren Frauen beim Gynäkologen mit der Pränataldiagnostik konfrontiert, ohne überhaupt die Chance gehabt zu haben, sich vorher damit auseinanderzusetzen. Für uns ist es ein Ziel, das Bewußtsein zu schaffen, daß eine genetische Untersuchung des Ungeborenen kein normaler Bestandteil der Schwangerenvorsorge sein sollte, sondern eine hohe Brisanz in sich trägt. Wir wollen, daß darüber eine kritische Debatte stattfindet.

Das Netzwerk fordert eine unabhängige Beratung. Was soll dort anders laufen?

Derzeit wird die Beratung von den humangenetischen Stellen oder den Frauenärzten durchgeführt, die selber ökonomische und berufspolitische Interessen haben, diese Techniken anzuwenden. Unabhängig heißt für uns, daß die Beratung nicht von Humangenetikern und Medizinern oder unter deren Leitung stattfindet. Wir fordern eine ganzheitliche, frauenorientierte Beratung, da die vorgeburtliche Diagnostik nicht vorrangig eine medizinische, sondern eine psychosoziale Problematik beinhaltet.

Ist eine bessere Beratung nicht Werbung für die vorgeburtliche Diagnostik?

Ich glaube, daß es eine Sackgasse ist, alternative Beratungsangebote zur Pränataldiagnostik aufzubauen und dort unpolitisch und nur auf Einzelfallebene zu arbeiten. Das könnte im Endeffekt auf die Perfektionierung der bestehenden humangenetischen Beratung hinauslaufen, sprich: die Mediziner und Humangenetiker können dann sehr gut auf die alternative Beratung verweisen, wenn sie Patientinnen haben, mit denen sie nicht zurechtkommen. Deshalb muß die Beratung immer kombiniert sein mit einer Kritik des gesellschaftlichen Ansatzes, der hinter der Pränataldiagnostik steht.

Welche Reaktionen auf Ihre Initiative gibt es aus der Behindertenbewegung?

Ich selbst komme aus der Behindertenbewegung. Innerhalb dieser Bewegung gibt es Frauen, die wie ich das Netzwerk wichtig finden. Aber es gibt auch Stimmen, die jede Form, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen, ablehnen. Insgesamt besteht unter behinderten Menschen eine eher kritische Haltung zur vorgeburtlichen Diagnostik, weil man deutlich die Verbindung zum eigenen Lebensrecht sieht.

Was ist Ihre Utopie?

Es müßte doch möglich sein, mit einer Behinderung zur Welt zu kommen, zu leben und Teil dieser Gesellschaft zu sein, einen Beruf und eine eigene Wohnung zu haben und sein Leben in Selbstbestimmung zu führen. Um zu lernen, daß Krankheit und Behinderung zum Leben dazugehören, ist vorgeburtliche Diagnostik der völlig falsche Weg. Interview: Ute Bertrand

Kontakt: Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte, Düsseldorf Tel.: 0211/626651