Der Mythos vom machbaren Wunschkind

Damit's ein Wunschkind wird, nutzen immer mehr Frauen die Möglichkeiten pränataler Diagnostik. Föten mit Gendefekten werden abgetrieben, Behinderte werden solchermaßen zu vermeidbaren Schadensfällen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Die Warnung vor der Auslesegesellschaft haben die VolksvertreterInnen längst schriftlich: Sollten sich Gentests unkontrolliert verbreiten, unkt das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), drohe hierzulande „schleichend eine Stigmatisierung und Diskriminierung von Trägern bestimmter genetischer Merkmale“. Behinderte Menschen könnten künftig zum vermeidbaren Schadensfall erklärt werden. Und wem ein Gentest voraussagt, er werde an einem erblich bedingten Leiden erkranken, müsse womöglich mit Verlust von Versicherungsschutz und Arbeitsstelle rechnen.

Von der TAB-Studie zeigten sich SprecherInnen aller Fraktionen betroffen und forderten, der Gesetzgeber müsse endlich handeln, um den Mißbrauch genetischer Diagnosen und Daten zu verhindern. Das war im März 1994. Heute, gut zwei Jahre später, gibt es noch immer kein Gesetz, das festlegt, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen Erbgut- Checks zu verantworten sind. Es wird einfach gemacht, was technisch möglich ist – und staatlich finanzierte Projekte wie die „Nationale Initiative zur Human-Genomforschung“ zielen auf immer mehr Machbarkeit.

Genetisches Testfeld Nr. 1 ist die pränatale Diagnostik. Wird beim Fötus ein sogenannter Gendefekt festgestellt – was nach Darstellung der TAB in 3 Prozent der untersuchten Fällen vorkommt –, gibt es in der Regel keine Therapie. Der betroffenen Frau bleibt dann nur der Entscheidungskonflikt. Soll sie die Schwangerschaft zu diesem späten Zeitpunkt – zwischen dem 5. und 6. Monat – abbrechen oder nicht?. Aus dem Dilemma kann auch die empfohlene, oft aber unterlassene „genetische Beratung“ keinen Ausweg anbieten. Trotzdem lassen sich nach Schätzungen jedes Jahr über 50.000 Frauen auf das Gen-Orakel ein. Und das Angebot wird steigen: Einen Boom erwarten Mediziner vor allem durch die Entwicklung eines Bluttests, der risikolos und leichter handhabbar sein soll als die bisher verwendete Methode.

Warum halten so viele Frauen die pränatale Diagnose für unentbehrlich? Motive hat die Soziologin Irmgard Nippert erforscht. Sie befragte 1.157 Schwangere, die sich 1992 für eine vorgeburtliche Untersuchung an der Universität Münster entschieden hatten. Als Grund gaben vier von fünf Befragten an: „Weil für mich die Vorstellung, ein ganzes Leben lang für ein krankes beziehungsweise behindertes Kind sorgen zu müssen, schwer erträglich ist.“

Erblich bedingtes Übergewicht – ein Abtreibungsgrund?

Dahinter steckt nicht nur der Wunsch nach Selbstbestimmung, sondern auch die materielle Situation. Ein Drittel der Befragten befürchtet finanzielle Belastungen durch ein behindertes Kind. Und Begriffe wie „Krankheit“ und „Normalität“ variieren, sie orientieren sich auch an gesellschaftlichen Leitbildern: Fast jede fünfte Frau gab an, die fiktive Diagnose „erblich bedingtes Übergewicht“ sei für sie ein Abtreibungsgrund.

Formal ist hierzulande niemand zum Gentest gezwungen, sie sind noch nicht obligatorischer Bestandteil der Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft. Doch viele Gynäkologen üben offenbar schon jetzt sanften Druck aus. Jedenfalls gaben zwei Drittel der in Münster befragten Schwangeren an, ihr Frauenarzt habe sie beeinflußt, die vorgeburtliche Diagnostik vornehmen zu lassen.

Auch viele selbstbestimmte Einzelentscheidungen können das gesellschaftliche Klima verändern. Das TAB befürchtet, Reihenuntersuchungen mit freiwilliger Teilnahme könnten eine „Eugenik von unten“ befördern, weil das zu diagnostizierende Erbmerkmal quasi allgemeinverbindlich als unerwünscht markiert werde. „Die Konsequenz“, meinen die Technikfolgenforscher, „wäre ein sich schleichend durchsetzender gesellschaftlicher Konsens über die Vermeidbarkeit behinderten Lebens.“

Der Mythos vom machbaren Kind bringt manchen auf den Gedanken, finanziellen Ausgleich für genetische Abweichung zu beanspruchen. Die AOK für Niedersachsen lotete gemeinsam mit Eltern die Aussichten einer Schadensersatzklage gegen einen Arzt aus. Ihr Vorwurf: Der Gynäkologe habe die Behinderung eines Fötus zu spät erkannt, eine straffreie Abtreibung sei daher nicht mehr möglich gewesen. „Gesundheitskasse“ und Eltern beantragten ein selbständiges Beweisverfahren beim Landgericht Göttingen. Nachdem der Sachverständige Konrad Mühlhaus (Medizinische Hochschule Hannover) in seinem gerichtlichen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen war, ein ärztlicher Kunstfehler liege nicht vor, gaben Eltern und AOK im Frühjahr 1995 ihre Bemühungen um Schadensersatz auf.

Gutachter Mühlhaus dachte über den Einzelfall hinaus und unkte im Niedersächsischen Ärzteblatt: „Kann eine Schwangere in Zukunft vielleicht deshalb ihr Kind nicht mehr austragen, weil keine Krankenkasse bereit ist, die Behandlungskosten für das kranke Kind zu übernehmen?

Kein Versicherungsschutz bei Behinderung

Für solche Befürchtungen gibt es Anlaß. In den USA machten Unternehmen Schlagzeilen, die die Krankenversicherung verweigerten, weil sich Eltern nach diagnostizierter Behinderung für die Fortsetzung der Schwangerschaft entschieden hatten. Inzwischen haben zehn US-Staaten gehandelt und Krankenversicherern per Gesetz verboten, Erbgut-Informationen zu nutzen. Der Persönlichkeitsschutz schließt auch die Ergebnisse von Gentests an Erwachsenen ein. Dagegen ermöglicht das deutsche Versicherungsvertragsgesetz den gläsernen Patienten: Wer eine private Kranken- oder Lebensversicherung abschließen will, muß seinen Gesundheitszustand offenlegen. Daß auch genetische Daten verlangt werden können, ist bislang nicht ausgeschlossen.

Die Verfügbarkeit von Gentests weckt weitere Begehrlichkeiten. 1994, während einer Anhörung im Bundestag, sagten Experten voraus: Bei medizinischen Untersuchungen vor Einstellungen und zur Vorsorge am Arbeitsplatz werden genomanalytische Methoden künftig eine immer größere Rolle spielen. Solche Checks sollen Menschen herausfiltern, die gegenüber krank machenden Arbeitsstoffen, etwa krebserregenden Chemikalien, als besonders anfällig gelten; den Betroffenen droht ein Beschäftigungsverbot. Diese Verkehrung des Arbeitsschutzes lehnen DGB und Datenschutzbeauftragte entschieden ab; seit Jahren fordern sie ein Verbot genetischer Analysen im Rahmen arbeitsvertraglicher Beziehungen – noch vergeblich.

„Bisher hat es die Politik versäumt, die Geister, die sie mit ihren Fördermitteln rief, in die Schranken zu weisen“, bilanziert das Berliner Gen-ethische Netzwerk (GeN) die Bonner Untätigkeit. Der Verband, der Gentechnik grundsätzlich kritisch sieht, will „Diskriminierung aufgrund genetischer Daten“ verhindern und die PolitikerInnen wachrütteln – mit „Mindestanforderungen an ein Genomanalyse-Gesetz“.

Nach Ansicht des GeN darf es Gentests ausschließlich im Gesundheitsbereich geben – vorausgesetzt, eine unabhängige, öffentlich kontrollierte Kommission habe sie zugelassen. Alle Genehmigungen müßten durch Verbandsklagerecht anfechtbar sein, z.B. von Behindertenverbänden. Zur Ausforschung seiner Erbanlagen dürfe kein Mensch gezwungen werden; Reihenuntersuchungen seien ebenso zu verbieten wie die elektronische Speicherung genetischer Daten, fordert das GeN.