Jeder Monat mehr trägt zum Überleben zu Hause bei

■ Nur wenige ehemalige DDR-Vertragsarbeiter gehören zur „Zigarettenmafia“. Aber sie sind Anlaufstelle für jene, die der desolaten Lage in Vietnam entkommen wollen

Kein Kebab-Imbiß auf den Straßen, keine Mädchen mit Kopftuch in den Schulen, keine fremden Klänge in der Straßenbahn – außer Sächsisch. Für die Westdeutschen bot das Jahr 1990 eine ungewohnte Erfahrung: die Wiedervereinigung mit einem Land ohne Ausländer, eine absterbende sozialistische Republik, östlich der Elbe, dem Internationalismus verschrieben und doch lupenrein deutsch. Erst allmählich realisierte die alte Bundesrepublik, daß auch die DDR „ihre“ Ausländer hatte und damit auch ein „Gastarbeiterproblem“, das noch immer nach einer gesamtdeutschen Lösung sucht.

„Vertragsarbeiter“ hießen sie zu DDR-Zeiten und kamen nach einem festgelegten Rotationssystem ins sozialistische Bruderland DDR: Männer und Frauen aus Angola, Mosambik, Kuba oder Vietnam, im Alltag streng abgeschirmt von der einheimischen Bevölkerung, um im Honeckerland vor allem die wenig begehrten Arbeiten zu verrichten. Als relevante Gruppe sind von den „Gastarbeitern“ der DDR einzig die Vietnamesen in Deutschland geblieben – und dort fast ausschließlich in Deutschland-Ost. Wie hoch ihre Zahl heute ist, läßt sich nur schätzen. Die Angaben schwanken um die 15.000.

Als DDR-Vertragsarbeiter blieben sie Gastarbeiter zweiter Klasse. Nach einer bundeseinheitlichen Bleiberechtsregelung gestand man den meisten von ihnen 1993 eine befristete Aufenthaltsbefugnis zu. Doch dieses Bleiberecht ist an den Nachweis einer Arbeitsstelle gebunden – eine Bedingung, die für einen Großteil der ehemaligen Vertragsarbeiter kaum zu erfüllen ist. Etliche hangeln sich mit Lehrgängen in Arbeitsförderprojekten über die Runden, andere sorgen als selbständige Imbißbetreiber oder Markthändler notdürftig für ihren Lebensunterhalt. Nur ein geringer Teil der ehemaligen Vertragsarbeiter gehört zu dem Kreis, der jetzt in der Öffentlichkeit fast schon zum Synonym für die Vietnamesen geworden ist, zu den „Zigarettenhändlern“ oder zur „Zigarettenmafia“.

Weit größer als die Gemeinde der ehemaligen Vertragsarbeiter sind mittlerweile zwei andere Gruppen: Illegal nach Deutschland eingereiste Vietnamesen, deren Zahl keiner kennt, und die – nach offiziellen Angaben – 44.000 Asylbewerber aus Vietnam. Mit diesen beiden Gruppen haben die ehemaligen Vertragsarbeiter zumindest mittelbar zu tun. Durch ihre langjährige Anwesenheit in Deutschland sind sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Anlaufadresse für Vietnamesen geworden, die etliche tausend Mark investieren, um der desolaten wirtschaftlichen Situation ihres Heimatlandes zu entkommen.

Nicht selten wurden in der Vergangenheit ehemalige Vertragsarbeiter von illegal eingereisten Landsleuten bedrängt, sie aufzunehmen oder bei dubiosen Geschäften behilflich zu sein. Nicht zuletzt waren einige derer, die jetzt als Asylbewerber nach Deutschland kommen, vor vielen Jahren bereits schon einmal hier – als „Gastarbeiter“ in Deutschland- Ost.

Als Asylbewerber haben Vietnamesen zwar keinerlei Chance auf Anerkennung als politisch Verfolgte; die Anerkennungsquote des Asylbundesamtes liegt für diese Gruppe knapp unter einem Prozent. Doch das Asylbegehren schafft Zeitgewinn, und jeder Monat in Deutschland trägt zum Überleben der Familie zu Hause bei oder schafft zumindest die Hoffnung, mit den Ersparnissen in der Heimat eine Existenz aufzubauen.

Hauptexistenzsicherung dieser Gruppe ist seit Jahren der Straßenhandel mit unverzollten Zigaretten. Lange Zeit ein lukratives Unternehmen, das sich bis Vietnam herumgesprochen hat und zum Magnet wurde. In den vergangenen Jahren ist das zum immer risikoreicheren Geschäft geworden. Brutale, sich gegenseitig bekämpfende vietnamesische Banden setzen ihre Landsleute massiv unter Druck. Gleichzeitig geht die deutsche Polizei immer rigoroser gegen die Zigarettenhändler vor. Etliche Verkäufer sind mittlerweile schon so oft vor dem Kadi gelandet, daß beim nächsten Ertapptwerden eine Gefängnisstrafe droht.

Zum anderen droht seit einem Jahr auch ein anderes Risiko: Im Sommer 1995 hat die Bundesregierung der Sozialistischen Republik Vietnam für 100 Millionen Mark ein Rückübernahmeabkommen abgehandelt. Zumindest theoretisch ist damit möglich, was Vietnam zum Ärger der deutschen Behörden bisher verweigert hat: die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern und Straftätern. Bisher jedoch sabotieren die vietnamesischen Behörden dieses Abkommen mit einem Spiel auf Zeit. Von den 7.500 Vietnamesen, die laut Vertrag bis Ende 1996 in ihre Heimat zurückgekehrt sein sollen, hat Vietnam bisher gerade mal 60 wieder einreisen lassen. Vera Gaserow, Berlin