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Richter ohne Not

■ Karlsruhe bestätigt Politik der Bedenkenlosigkeit

Es ging um Essentielles, nicht um die Ehre – nicht um verunglimpften Soldatenstolz, nicht um verletztes religiöses Empfinden. Das Bundesverfassungsgericht hatte nicht über Ideologiemasse zu entscheiden, sondern über real existierende Menschen. Als Asylbewerber tragen diese Menschen weder Uniform noch Kreuz an der Brust, und nur wenn sie Glück haben, hat man ihnen die Ehre nicht schon an der Grenze genommen. Keine Klientel, die einen Proteststurm auf Karlsruhe entfacht, keine Lobby, die an Richterstühlen sägt.

Für ihre Asylentscheidung werden die Karlsruher Richter weitgehend ungescholten bleiben, dabei haben einige von ihnen ein vernichtendes Selbsturteil gefällt: „Ohne Not“, so schrieben drei der acht Verfassungswächter in ihrem Minderheitenvotum zur umstrittenen Flughafenregelung, habe sich das Gericht seiner Kontrollfunktion gegenüber der ausführenden Gewalt entledigt. Ohne Not – deutlicher kann eine Kollegenschelte kaum sein. Ohne Not – das ist nur die halbe Wahrheit, denn massiv wie bei kaum einer anderen Entscheidung stand Karlsruhe beim Asylurteil unter politischem Druck. Ohne Not – das zeigt den verfassungsrechtlichen Spielraum auf, den die Karlsruher Richter durchaus gehabt hätten, aber nicht nutzen wollten – sei es aus mangelnder Courage, verinnerlichter Staatsräson oder ehrlicher Überzeugung.

Statt grundlegender Änderungen, für die Asylexperten bei ihrer Anhörung tagelang plädierten, hat Karlsruhe nur kosmetische Korrekturen verordnet – in der Praxis kaum spürbar und schwer zu kontrollieren. Was eine Allparteienkoalition vor drei Jahren eingeläutet hat, ist nach dem gestrigen Spruch des Gerichts irreversibel: der Abschied von einem liberalen Asylrecht und einem wichtigen Bestandteil (guter) alter Bundesrepublik.

Die Verpflichtung zur Aufnahme politisch Verfolgter gehörte jahrelang zum moralischen und historischen Selbstverständnis dieses Landes. Diese Selbstverpflichtung kann jetzt endgültig der Abschottung gegenüber Flüchtlingen weichen. Das Verfassungsgericht hat die Politik in die Bedenkenlosigkeit entlassen. Abgepuffert von sicheren Anrainerstaaten lebt Deutschland nunmehr von der Gnade der günstigen Geographie.

Vera Gaserow

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