Cannes Cannes
: Nach allen Seiten offen

■ Großes Kunstwollen: Al Pacino verfilmt Shakespeare für ein freies Amerika

Daß sich ein Film über sexuellen Kindesmißbrauch ereignet hat, erkennt man immer daran, daß an allen Ecken und Enden des Festivalpalais eng umschlungen Frauen stehen, die Frauen trösten. Angelica Huston ist eine der vielen Schauspielerinnen, die nun selber Regie führen; durch die Wahl des aufgeladensten aller Themen hat sie gleich sichergestellt, daß die ästhetische Qualität ihres Debüts in den Kritiken hintangestellt wird. „Bastard out of Carolina“, ein Südstaatenschauerstück mit Mädchenvergewaltigung auf schwankenden Holzplanken, wäre der Rede nicht wert, müßte man nicht damit rechnen, daß ihm noch viele folgen werden.

Ansonsten war sehr viel Kunstwollen zu verzeichnen. Auch Al Pacino ist ins Regiefach gewechselt und hat mit „Looking for Richard“ die Erarbeitung des Shakespeare-Stücks durch eine Gruppe bemerkenswerter Darsteller dokumentiert, in erster Linie Al Pacino als Richard III, Winona Ryder als Lady Anne oder Alec Baldwin (!) als Clarence (!!). Gewisse Zweifel haben ihn wohl selbst geplagt, sonst würde er nicht unendlich viele Zeugen dafür aufrufen, daß Amerikaner auch ein Recht auf Shakespeare haben. Straßenbefragungen ergänzen das Demokratisierungselement: Ein schwarzer Obdachloser vor der Staatsbibliothek weiß zu sagen, daß man von Shakespeare und übrigens auch von ihm selbst lernen könne: Wenn wir nur alle etwas mehr Gefühl in unsere Worte legten, könnte diese Welt ein besserer Ort sein! Sich nachdenklich über den Dreitagebart fahrend erklärt Pacino seiner Crew, er sei der Meinung, „Richard III“ sei ein Stück über Macht, die einer unbedingt ausüben wolle, auch wenn er dafür über Leichen gehen müsse. Aber wie schon Charlton Heston sagte: „Shakespeare is a free country!“

Das Verhalten von Stars auf Pressekonferenzen ist ein dankenswertes Sujet der Festivalanthropologie. Während manche, vor allem junge Darstellerinnen, ein Nackt-unter-Wölfen-Gesicht ins Blitzlichtgewitter halten, neigen andere sich verschwörerisch zu uns herab, als wollten sie uns etwas flüstern, was die da draußen (Die Produzenten? Das Publikum? Das Schweinesystem?) nicht hören sollen.

Pacino hingegen plaudert munter drauflos, im Schlafzimmerton, den er schon in „Heat“ an den Tag legte, nach allen Seiten offen (Al Pacino is a free country!) – ganz Pate, der sich neuerdings durch den Gebrauch von Wörtern wie „Metapher“ oder „Authentizität“ in den E- Bereich hochgehieft hat.

Apropos Kunstwollen: Peter Greenaway geht eisern weiter seinen Weg Richtung Jesuitenkino – „The Pillow Book“ ist die Biographie einer Japanerin, der ihr Vater die Genesis auf die Haut schreibt. Oh, là, là! Kino als Schrift, Schrift als Kino, Schrift und Identität, eine Rolle auf den Leib schreiben, compris? Viele Bilder haben kleine Fenster, auf denen andere Bilder zu sehen sind: der CD-ROM-Effekt, der sich einstellt, wenn man das Gefühl hat, woanders könnte mehr los sein ... Die Coen-Brüder („Hutsucker Proxy“) wollen dieses Gefühl keineswegs aufkommen lassen, und deshalb ist „Fargo“ – die Verfilmung eines Minnesota-Gemetzels, das mit einer kleinen Betrügerei begann – voller Füße im Fleischwolf, komisch verzweifelter Japaner, Streifschüsse, Schweinehaxen und bizarr gefrorener Leichen.

Mehr gewagt hat sich da schon Jacques Audiard mit seiner fantastischen Komödie „Un héros très discret“ über einen Burschen aus der Provinz, der sich neun Monate nach Ende des Krieges in Paris eine Résistance-Biographie bastelt, indem er übt, wie so jemand raucht, welche U-Bahnstationen man in London benutzen mußte, um zu den entscheidenden Plätzen zu kommen, wie man über eine gelungene „Aktion“ redet (nicht prahlen, sondern es sich widerwillig aus der Nase ziehen lassen). Alle, auch und gerade die hartgesottensten Kämpfer, glauben ihm, „erinnern“ sich in Fernsehinterviews an ihn, und so wird er Kommandant in Deutschland. Mathieu Kassovitz, der vor einem Jahr mit seinem Vorstadt-Rapfilm „La haine“ hier reüssierte, ist fantastisch in dieser Rolle, und das muß er auch sein, denn schließlich haben sich im französischen Kino Résistance und Komödie praktisch ausgeschlossen. Gegen Jean Gabin oder Simone Signoret anzuspielen braucht all die Chuzpe, die Kassovitz hat. Prompt befand die Libération den Film als zu leichtgewichtig, „gerade in Zeiten des blühenden Revisionismus“ – als wäre nicht gerade so ein Film Zeichen allergrößter Souveränität und Gelassenheit und als müßte man nicht eher den großen Offenbarern und Enttarnern mißtrauen.

Für mich soll's große Gnocci regnen. Bernardo Bertolucci hat „La beautée volée“, seinen Film über die Initiation einer jungen Amerikanerin (Liv Tyler), in der Toscana angesiedelt. Küünstler! Kurzpoesie! Nacktbader! Handies! Selbst das Cannes-Publikum, sonst in Sachen Passion zu allerhand Kompromissen bereit, war offenbar auch der Auffassung, dies alles sei besser im Schatten junger Mädchenblüte verblieben. Mariam Niroumand