Erlebnis-Hamster im Vergnügungsrad

■ Die Macher der Ferienindustrie locken mit vorproduzierten Ereignissen, magischen Events. Auf der Strecke bleibt – bei allem Erlebnishunger – das Erleben

Die Crux am Tourismus ist, daß er das Paradies dort verspricht, wo es nicht zu finden ist: in der Welt der Dinge.

Um überhaupt funktionieren zu können, mobilisiert er die tiefsten Sehnsüchte und Phantasien, die unsere Kultur überliefert hat: das Paradies, das Schlaraffenland, das Märchenschloß, die große romantische Liebe unter Palmen. Nur wer das wirklich haben will, nimmt die Strapazen eines Achtstundenfluges in einer Sardinenbüchse in Kauf. Tourismus mobilisiert ein gewaltiges Traum- und Phantasiepotential, doch er zerstört es auch. Ähnlich wie er durch seine räumliche Expansion die natürlichen und kulturellen Grundlagen vernichtet, auf denen er sich ausbreitet, greift er auch seine imaginativen Voraussetzungen an. Indem Tourismus die menschliche Phantasie an seine gleichermaßen schäbige wie bombastische Hardware fesselt, verwandelt er sein Glücksversprechen in Glücksverderb.

Tourismus unterwirft seine Kunden einem strammen Regime, das spielerisch daherkommt. Der Tourist wird einem standardisierten Wahrnehmungsmanagement unterworfen, beispielhaft zu studieren in 98 Prozent aller Reiseführer. Die ohnehin zeitlich begrenzten Möglichkeiten zur Entdeckung von Neuem, Unverhofftem verschwindet im Abhaken eines Katalogs von musts, seien es nun klassische Sehenswürdigkeiten oder Szenetreffs. Die Freiheit des Touristen, tun und lassen zu können, was er will, ist ungefähr so groß wie die Einflußmöglichkeit des Staatsbürgers auf die internationalen Finanzmärkte.

Seit ein paar Jahren kreisen Theorie und Praxis des Tourismus um den Begriff Erlebnis. Begeistert stürzen sich die Tourismusplaner auf das soziologische Standardwerk Gerhard Schulzes über die „Erlebnisgesellschaft“. Doch ihre Rechnung: „Schulze beschreibt die Erlebnisgesellschaft, wir organisieren sie“, ist zu kurz gegriffen. Erlebnis hat für Schulze zwei Dimensionen: eine situative und eine reflektorische. Im Alltagsverständnis ist Erlebnis gleich Eindruck: in einer bestimmten Situation, zum Beispiel im Urlaub, erlebt man etwas. Doch zum Bestandteil des Selbst werden Erlebnisse erst durch ihre kognitive und emotionale Verarbeitung. Erst dann trifft zu, daß eine Person nicht nur Erlebnisse hat, sondern „in ihnen besteht“.

Um genau diese Dimension der reflektorischen Verarbeitung des situativen Erlebnisses betrügt die Erlebnisgesellschaft ihre Mitglieder. Die Designer des Erlebnismarktes produzieren eine Pyramide von Lock- und Konsumreizen, auf die in immer kürzeren Abständen reagiert werden muß. Ein Erlebnis muß auf das andere folgen, bevor das erste verdaut ist. Daraus – und aus den damit verbundenen Frustrationen fortgesetzter Kappungsverfahren – entsteht Erlebnisgesellschaft als Suchtgemeinschaft. Gesteigerte Erregung, hervorgerufen durch sich überbietende Thrills, muß immer weiter angeheizt werden. Die Erlebnis-Hamster rennen sich in ihren Vergnügungsrädern kaputt. In Schulzes Worten: „Statt sich Befriedigung zu verschaffen, vergrößern die Nachfrager ihren Erlebnishunger um so mehr, je mehr sie ihn zu stillen versuchen.“

Die Spirale des Erlebnishungers löst bei den Tourismusmachern die Angst aus, den angeheizten Event- Sehnsüchten nicht mehr nachkommen zu können. Unter dem Schlagwort „Management der Menge“ hat sich beispielsweise die Tourismuswissenschaftlerin Felizitas Romeiß-Stracke als Propagandistin einer effizienteren Architektur der Bedürfnisbefriedigung einen Namen gemacht. Im festen Glauben an unerschlossene Leistungsreserven der Erlebnis-Hamster appelliert sie nicht etwa an die Kreativität der Urlauber, sondern an die magischen Macher der Ferienindustrie: „In der Bereitstellung von körperlichem und seelischem Erlebnis und in der Ästhetik liegt die eigentliche Gestaltungskraft der Tourismuswirtschaft.“ Doch dient die vorgebliche Orientierung an den „Gefühlen der Touristen“, unterstützt vom emphatischen Ruf nach größerer Wirklichkeitsnähe und Erfahrungstiefe, dazu, das technologische Arsenal der Ersatz- und Scheinbefriedigungen zu erweitern. Center Parks sind Maschinen zur Erzeugung ständig wiederholter Vorlust. Die Freude am Entdecken erschöpft sich in der Enge einer auf wenigen Quadratmetern raffiniert geplanten Welt kodierter Reize. Aus der Reise verschwindet die Bewegung. Der Center Park schafft die Lust der Ortsveränderung ab. Überraschung bietet nur noch die Warteschlange.

Gegen diese Alpträume der hochtechnisierten Wunschträume scharen sich etliche Vertreter eines sanften Tourismus um den Wunschtraum, zwischen dem Reisenden und dem „Bereisten“ sei doch eine Begegnung möglich. Sie lassen sich von der ältesten Fiktion des Tourismus leiten: Authentizität, auch Idylle, Ursprünglichkeit, Naturnähe, Unverdorbenheit, Reinheit genannt. Erträumt ist eine Kreuzung von geographischer Utopie und historischer Zeitreise: Dort wo die „einfacheren“ Ethnien und Kulturen sind, sollen wir unserem wahren, ursprünglichen, menschlicheren Selbst begegnen. Der Kontakt mit vorgeblich natürlichen, als geschichtslos gedachten Materialien, mit einer unzerstörten Natur und mit in Traditionen verwurzelten „Eingeborenen“ soll auf denaturierte Stadtmenschen wie ein Jungbrunnen wirken. Damit es so bleibt, sollen die vorgefundenen Strukturen für alle Zeiten bewahrt und für ihre städtischen Nutznießer bereitgehalten werden. Dieser Traum von Authentizität könnte der Agrarpolitik als Leitschnur dienen: Dann würde Freiherr von Heeremann Scharen von Schaubauern präsentieren, die für europäische Städter und japanische Touristen Schaulandschaften im ursprünglichen Trachten- Look betreiben.

Doch nicht der Ort, das Arrangement der vorgefundenen Räume, Artefakte und Riten macht das Authentische einer Erfahrung aus. Authentische Erfahrungen sind solche, die als authentisch erlebt werden, weil sie von intensiven Gefühlsregungen, etwa von einer identitätsstiftenden Erinnerung oder auch Verunsicherung, begleitet werden. Authentische Erfahrung kann man überall machen.

Diese schlichte Wahrheit muß die Tourismusindustrie zunehmend leugnen: Um zu überleben, schneidet sie den Touristen das Glück des Erlebens ab. Situationen, in denen man das Fremde, Unbekannte, Andere erlebt, muß man schon selber suchen. Der Trend strebt dagegen: zum fast event. Wir armen Hamster! Tobias Gohlis