Der Charme des Lokalen

Eine Studienreise nach Kreta: Von der touristischen Entwicklung einer griechischen Insel, Traumstränden, Souvenirs und virtuellen Urlaubswelten  ■ Von Edith Kresta

An einem Feiertag wie dem 1. Mai herrscht reger Verkehr zum Kloster Preveli im Süden Kretas. Eine riesige Trauerzypresse im felsigen Boden wirft ihren breiten Schatten auf einen Teil der hochgelegenen Anlage. Sie ist umgeben von Wiesen mit blühenden Blumen. Am Brunnen des Innenhofs kann sich der reuige Büßer – so steht es geschrieben – seine Sünden abwaschen und dann geläutert auf das blaue, libysche Meer hinausblicken. Das Kloster ist ein himmlisch entrücktes Örtchen. Ausländische Touristen, aber vor allem Kreter nutzen den Feiertagsausflug zum Besuch der Klosterkirche, dem einzig belebten Gebäude der alten Anlage. Eine lange Schlange steht vor der kleinen Kirche: Männer in Anzügen, Frauen in knielangen Röcken und adretten Blusen, herausgeputzte Kinder, ab und an ein verirrter Tourist im Freizeitlook. Sie stehen an, um das Kreuz, das der Pope hochhält, zu küssen. Es soll der Gesundheit im allgemeinen, der der Augen im besonderen dienen.

Ungefähr eine Stunde Fußmarsch ist es vom Kloster Preveli hinunter zum „Palm Beach“, dem klostereigenen Strand. Die Schotterstraße zweigt schon bald in einen abschüssigen Weg, der zu den Klippen hin immer schmäler wird. Zwischen gelber Macchia wachsen rosa Felsentulpen und duftende Kräuter. Von den Klippen kann man die zerklüftete Küste Südkretas, die Schneeberge der Lefka Ori und die üppigen Palmen der kleinen Bucht sehen. Eine Traumlandschaft. Bilder, die sich einprägen.

Nur über Klippen oder mit dem Boot ist die Bucht zu erreichen. Der Fluß Megalopótamos mündet hier ins Meer. Links und rechts seines Ufers steht ein Bilderbuchpalmenhain. Hier wachsen jetzt im Frühling Anemonen, Pfingstrosen der stinkende, mit seiner Größe und Blüte beeindruckende Schlangenwurz oder Schwertlilien. Ein in Europa höchst seltenes Biotop. Noch vor drei Jahren war auch die Marihuanapflanze hier „heimisch“. Die Bucht mit ihren ausladenden Palmen, dem Süßwasser und der abgelegenen Gegend wurde als Geheimtip unter Langzeiturlaubern, Rucksacktouristen und Späthippies gehandelt. Und verschandelt. Die kleine Klosterkirche am Eingang des Palmenhains war zeitweise zur Müllhalde umfunktioniert. Noch heute zeugt ein riesiger Berg Blechdosen, verwittert von den Gezeiten, von den Problemen mit der Entsorgung am Traumstrand. Mangels Sanitäranlagen wurden lauschige Palmennischen zum öffentlichen WC. Vor drei Jahren stellte die Regierung Kretas die Bucht kurzerhand unter Naturschutz.

An diesem Mai-Feiertag wird hier am offen Feuer unter Palmen Souvlaki gegrillt, Dosenbier getrunken, gezeltet und Ball gespielt. Die Schilder mit den rotumrandeten Piktogrammen „Feuer, Campen, Picknick verboten“ sind über den Winter verrostet. Schutzlos der Natur ausgeliefert, schützen sie allenfalls die Naturschützer vor dem Vorwurf der Untätigkeit. „Kreta ist in Sachen Umweltschutz und Müllentsorgung ein Dritte- Welt-Land. Das Umweltbewußtsein ist völlig unterentwickelt“, so Thomas Pascoe von „Nature Watch Crete e.V.“, einem Verein für Umweltschutz und Regionalplanung. „Die wenigen Auflagen, die es gibt, setzt niemand effektiv oder nachhaltig durch, Vetternwirtschaft untergräbt positive Ansätze“. Und so darbt auch das schutzbedürftige Exoten-Biotop vor sich hin. „Mittlerweile ist der Unterwuchs so degradiert, daß der Palmenhain kaum noch zu retten ist“, meint die Geologin Meier- Müller aus Memmingen, die hier Forschung und Erholung miteinander verbindet. Ihr Plädoyer: „Der Palmenhain braucht sofortiges Betretungsverbot.“ Doch das Hippie-Paradies ist nach wie vor der Hit zum Lustwandeln: bei einheimischen Ausflüglern, Rucksacktouristen und den Pauschaltouristen, die mit dem Boot von Plakias für einige Stunden hierherkommen. Ansonsten haben die Pauschaltouristen ihre gut organisierten Paradiese im Norden der Insel.

Beispielsweise Rethymnon. Autos, Staub und Lärm an der Uferstraße. Benzingestank vermischt sich mit dem Kokosnußduft vieler Sonnencremes. Hinterm Pflaster liegt der Strand. Kleine Pensionen und größere Anlagen säumen die Uferstraße. Kellner fordern eindringlich zum Besuch der kaum besetzten Restaurants auf. Die in Reiseführern gerühmte kretische Gastfreundschaft ist hier längst dem Blick für das Wesentliche, den Umsatz, gewichen. Urlauber in Badedress überqueren die befahrene Straße, um einen Liegestuhl in den vorderen Rängen mit Meeresblick zu ergattern. „Tourismus ist Kultur“, so die Reisefachfrau Felizitas Romeiß-Stracke; und Rethymnon ist sicherlich touristische Hochkultur. Unterstützt von der TUI tagt im Rethymnoner Creta-Palace die katholische Thomas-Morus-Akademie. Thema: Tourismus auf Kreta. Wissenschaftler, einheimische und importierte Tourismusfachleute diskutieren vor Ort und in einer Luxusanlage des griechischen TUI-Vertragspartners „Grecehotel“. Dort geht es um Tourismus und Wirtschaft, Tourismus und Umwelt und um die Perspektiven der touristischen Entwicklung auf Kreta.

Für die Griechin Evangelia Mitrofanaki ist zumindest die Perspektive des Creta-Palace klar: „Da machen wir ein schönes Krankenhaus daraus.“ Evangelia ist in Athen aufgewachsen. Nach sechsjährigem Aufenthalt in Deutschland hat sie nun auf dem Grundstück ihres Vaters in Südkreta gebaut. Südlich von Rethymnon, Richtung Agia Galini im Amari- Tal, ist eine fruchtbare Gegend. Zwischen Oliven und Eichen stehen Nuß-, Maulbeer-, Birnen- und Apfelbäume. Hier wachsen auch Mandeln, Feigen, Kirschen und Wein. Ab und zu raucht eine „unkontrollierte Müllhalde“ auf den grünen Hängen. Immer noch sind 40 Prozent der kretischen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Der stark subventionierte Olivenanbau ist nach wie vor respektierter Besitzstand. Eine teilweise abenteuerliche Straße zweigt bei Spili von der Hauptstraße Richtung Süden in das 35-Einwohner-Dorf Drimiskos ab. Evangelia lebt dort von Zimmervermietung an die wenigen deutschen Urlauber, die sich hierherverirren, von Olivenbäumen und dem Kafenión. Sie hat das leerstehende Kafenión des Dorfes renoviert und zusammen mit ihrer Mutter wiedereröffnet. Nach anfänglichem Widerstand gegen die „fremde Kreterin“, erzählt sie, kehrten nun auch der Dorfschreiber und der Bürgermeister regelmäßig bei ihr ein. Heute, am 1. Mai, spendiert der Bürgermeister Raki, Wein und Lamm für die Studienkollegen seines Sohnes aus der Bezirkshauptstadt Rethymnon. Auf der Terrasse unter der großen Platane wird gegessen, getanzt und getrunken. Das ganze Dorf nimmt daran teil: Sei es, indem die Männer mittanzen und trinken, die Frauen vom Hauseingang herüberäugen oder weil die Musik aus den Lautsprechern an der Platane alles andere übertönt. Ab und zu schießt der Bürgermeister mit seinem Gewehr in die Luft. Aus Spaß an der Freud. Aus Spaß an der Freud werden Gläser und Teller auf den Terrassenboden geworfen. Mutter Mitrofanaki weist die Übermütigen laut schimpfend zurecht. „Zahlt alles der Bürgermeister“, beruhigt sie die Tochter. Und der zahlt noch mehr. Eine Jeepkarawane rollt durch die enge Straße des kleinen Ortes. Der Bürgermeister winkt heftig mit der 2-Liter-Raki-Flasche, und etwa 40 französische Abenteuertouristen stellen ihre Jeeps am Ortseingang ab. Anfangs etwas verlegen, nach drei, vier Rakis entspannt, feiern die Franzosen begeistert mit. Völkerbegegnung im „verborgenen Kreta“, so lautet zumindest das Ausflugsziel der Jeeptouristen. Weinend verabschiedet sich ein älterer Franzose: „Das“, gesteht er gerührt, „ist mein schönstes Souvenir aus Kreta.“

Ein kostenloses obendrein. Der Charme des Lokalen hat ihn überzeugt. In der gepflegten Anlage des Creta-Palace entblättern Tourismusexperten derweil die „Utopie des Wahren“. „Die deutsche Kultur“, so Fachfrau Romeiß-Stracke, „hat die Illusion des Wahren und Echten. Doch auch der Schein ist Realität.“ Und der Dadaist unter den Tourismusfachleuten, Andreas Braun, weiß, daß man „die offenkundige Eigenschaft eines Tourismuslandes verbergen muß“. Braun arbeitet in Sachen Kristall- Kunstwelt bei Swarowski in Tirol. Er plädiert für das „virtuelle Gastland mit Eigenschaften“, denn „die Faszination schwacher Scheinwelten erregt nicht mehr. Die neue sinnliche Betroffenheit“, so Braun, „braucht virtuelle Urlaubswelten. Der Konsument der Zukunft muß permanent an Sinnesorganen angeschlossen sein.“ Verlasssene Klöster, Palmenstrände, kostenloser Raki, kostenlose Freundlichkeit – ein alter Hut!. Marc Pasture, Mitglied des Vorstands der TUI, gesteht, daß „es auch ums Kaufen geht“. Mit Sokrates-Zitaten plädiert er für „die Vielfalt der Märkte“ und „die Erweiterung der Erlebniskicks“.

Angesichts solcher tourismusstrategischer Potenz erblaßt der Charme des Lokalen und der Landschaft Kretas in der Tat. Gibt es überhaupt ein lebenswertes Leben außerhalb des organisierten Tourismus, der perfekt inszenierten Urlaubswelten?

Vielleicht nur ein schlechteres. Zumindest bei der Abreise vom putzigen Flughafen Heraklion wünscht sich wohl mancher Pauschaltourist den virtuellen Kick oder zumindest „mehr Schein als Sein“. Siebzig Maschinen starten hier an einem Samstag in Richtung Norden. Lange Wartezeiten, Staus und Gedränge in der Abflughalle. Selbst an der kleinen Bar eine unendliche Schlange, gestreßte Gesichter, unfreundliches Gestoße. Eine virtuelle Cola, bitte!