■ Abgehört
: Müller ungestrichen

Heiner Müller: „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“, heute, 20.05 Uhr, DLF und am Montag, 20.05 Uhr, ORB

Die erste Aufführung von Heiner Müllers letztem Stück „Germania 3“ findet im Radio und nicht im Theater statt. Ulrich Gerhardt hat sie mit Ulrich Mühe inszeniert, mit dem er schon Vladimir Sorokins Erzählung von einem Urlaubsaufenthalt im Konzentrationslager Dachau zu einem der verstörendsten Monologe der Hörspielgeschichte gemacht hatte.

Diesmal spricht Mühe nicht nur die eine, sondern alle Rollen, und das sind nicht wenige, von Stalin bis Hitler, von Helene Weigel bis zum „Rosa Riesen“. In Germania 3 geht es um die Notwendigkeit der Gewalt und des Tötens – auch und vor allem die nach dem Sieg, auch und vor allem gegenüber den eigenen Leuten. In neun Teilen entwickelt sich ein historisches Panorama von der Jagd und Exekution eines kriminellen Genossen 1928 durch die Partei, über die Monologe von Hitler und Stalin, den Auftritt von Ulbricht und Thälmann als DDR-Grenzer, bis zu einer Diskussion im Berliner Ensemble 1956: „Man zieht die Mütze nicht zweimal vor den Panzern“, heißt es in Anspielung auf Brechts Geste am 17. Juni 1953. Offensichtlich hat man in der kommunistischen Bewegung die Mütze zu oft gezogen, erkennt Müller durchaus selbstkritisch, bei aller Legitimierung der Gewalt.

Ulrich Gerhardt meidet die offensive Auseinandersetzung mit Müllers Texten, wie sie von Heiner Goebbels bis zu den Einstürzenden Neubauten produktiv betrieben wurde. Statt dessen setzt er ganz auf seinen Schauspieler und gestattet sich nur an wenigen Stellen akustische Ergänzungen zum fast ungestrichenen Text. So sächselt es im O-Tone einer Jagdgrundorganisation mit einem Beigeschmack von Wahrheit: „Die jeweils herrschende Klasse übt die Jagd aus, das war im Feudalismus so, war und ist im Kapitalismus so und ist in unserer ...“ (bricht ab).

Diese Inszenierung versucht intensiv den Müllerschen Intentionen gerecht zu werden. Bis auf eine: seine Abneigung gegen ein allzu erklärendes Theater. Und Müller zu gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.Jochen Meißner