: „Vorsicht, faßt an!“
Sie ist attraktiv, sie ist PDS, und sie mag Körperkontakt. Sie faßt gern Ärsche an und sagt das im Fernsehen – kann so eine Bürgermeisterin sein? Bärbel Grygier kann: Sie ist Stadtoberhaupt von Berlin- Hohenschönhausen ■ Von Vera Gaserow
Ausgeschlossen. Beim besten Willen nicht. Kein Termin mehr frei bei „Frau Bürgermeister“. Selbst als Vorzimmerdame kriegt man sie ja kaum zu Gesicht. Rauscht nur noch rein und raus. Ein einziger Kondensstreifen, diese Frau, tut mir leid. Das heißt – wenn man vielleicht, am 1. Mai, ja, das wär' eine Lösung, Seit' an Seit' mit ihr am Kampftag der Arbeiterklasse, 9 Uhr 30 Demonstrationsbeginn. Na, also wirklich! Die Frau können Sie gar nicht verfehlen, Anfang 40, blond, blauäugig, lebhaft, steckt immer da, wo viele Leute sind! Also abgemacht, 1.Mai, Treffpunkt Lindenkorso, Berlin-Hohenschönhausen, wie gesagt, sie ist nicht zu übersehen.
Von wegen! Jemand, der nicht da ist, ist sehr wohl zu übersehen. 9Uhr 30, Lindenkorso – keine Dame, blond, blauäugig, lebhaft, weit und breit. Nur ein Häuflein Aufrechter, Durchschnittshaarfarbe silbergrau, mit Transparent und gemäßigt kämpferischem Blick. Na gut, dann schlurft die 1.-Mai-Demo im Berliner Nordosten eben ohne „Frau Bürgermeister“ los. „Die Bärbel“ – wahlweise nennt man sie hier auch „Frau Dr. Grygier“ – hat's offenbar nicht rechtzeitig geschafft.
Wie auch? Frau Bürgermeister hat die Walpurgisnacht durchgefeiert, in Prenzlauer Berg bis morgens um sechs. Da war – tut ihr „echt leid“ – mit morgendlicher Demo „nix drin“. Aber eine Stunde später steht sie auf dem Maifest, zwischen Riesenrostbratwurst, Zuckerwatte und „Aktionsbündnis soziale Verantwortung“. Jetzt erst mal frühstücken, „Traum eines Morgens, 'n schönes frischgezapftes Bier“. Was quatschen die da vorne solange? „Die Leute soll feiern, Musike soll'n sie machen!“ Jawoll! Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft!! – Märkische Blasmusik kann gnadenlos sein, vor allem, wenn der Restalkohol noch unter den Haarwurzeln pocht und man selbst jetzt da vorne eine Rede halten soll. Also, rauf auf die Bühne, „freue ich mich, daß sie so zahlreich“, „1. Mai, Tradition“, „Kombination zwischen Kampf und Feiern“, „wünsche ich Ihnen“, „in diesem Sinne“, „einen schönen und freundlichen 1. Mai“. Beifall. Berliner Luft, Luft, Luft.
„Unser aller Dank an Frau Dr.Grygier, Bezirksbürgermeisterin Hohenschönhausen.“ – „Wat denn? Die Mieze da, det war unsere Bürgermeisterin? Kenn ick jar nich.“ Aber die kennt doch hier jeder! Das ist doch die, na die, die mit dem Arsch.
Einen Arsch hat jede(r). Der von Bärbel Grygier zum Beispiel steckt in ausgewaschenen Markenjeans. Aber um den geht es nicht. Ist es auch nie gegangen. Es ging um die Ärsche von anderen, und die faßt sie nun gern mal an. Hat sie gesagt, öffentlich, im Fernsehen. So etwas aber macht man nicht, schon gar nicht, wenn man Bürgermeisterin von Hohenschönhausen werden will. Als Betonbettenburg made in DDR hat der Bezirk ohnehin mit dem Image zu kämpfen. Dabei ist Hohenschönhausen eine richtige Stadt, 120.000 Einwohner, da müssen Regensburg und Potsdam erst mal mithalten können. Da lümmelt man als angehendes Stadtoberhaupt nicht auf der häuslichen Ledercouch herum und erzählt in laufende Fernsehkameras: „Wenn ich jemand auf diese Weise entdecken kann, faß' ich gerne auch mal Ärsche an, Männer- und Frauenärsche gleichermaßen“, und da tituliert man den Kandidaten von der Gegenpartei nicht als einen Mann, „der keinen Arsch in der Hose hat und zum Zupacken viel zu kleine Hände“.
Bärbel Grygier hat es gemacht, und das war der Eklat, mitten im Wahlkampf. Sie hat öffentlich über Sexualität gesprochen und Politik und was beide miteinander zu tun haben könnten. Die Offenheit hätte sie um ein Haar das begehrte Amt gekostet. „Untragbar“ zeterten SPD und CDU über die Kandidatin, die sie kurz zuvor noch als „kompetente“ Gesundheitspolitikerin in ihre eigenen Reihen ziehen wollten. Eine Frau hätte man ja noch akzeptiert, eine mit PDS- Ticket auch, aber diese ungebührliche Weibsperson – nein. Die Grünen enthielten sich pikiert, und selbst die eigene Partei, die PDS, bekam Bauchschmerzen wegen der „Arschaffäre“. Vier Wahlgänge brauchten die Bezirksparlamentarier, ehe sie Bärbel Grygier im Dezember schließlich doch zur Bürgermeisterin machten. Seitdem würde die sich am liebsten ein Schild um den Hals hängen: „Vorsicht, faßt an!“
„Horst, bringste mir noch eins mit?“ Frau Bürgermeister ist guter Dinge und mittlerweile beim zweiten Glas Bier. Auf dem Terminplan steht: Ausstellungseröffnung im Heimatmuseum. „Sehr geehrte Frau Bürgermeister, meine Damen und Herren“, der Gartenamtsleiter holt aus zur Begrüßung. „Gut war das“, wird Bärbel Grygier ihm hinterher sagen und dem kugeligen Beamten dabei die Jackettkaros streicheln, „schöne Rede“; und die anderen Probleme, „die kriegen wir auch in den Griff“. Himmel! Wenn sie ihn weiter so anstrahlt mit ihren blauen Augen, dann schmilzt der brave Mann noch zu Wassereis.
Am Museumseingang lauert das nächste Problem: Das ABM- Projekt Seniorentanz ist von Kürzungen bedroht. Frau Bürgermeister wird sich drum kümmern, „versprochen!“ Anerkennende Gesichter: „'n bißchen jung ist sie ja und irgendwie reichlich anders, aber die packt was an.“ Das genießt sie. Auf Leute zugehen, sie aufzutauen, sie für sich einzunehmen ist Bärbel Grygier noch nie schwergefallen. Und wenn weiblicher Charme dabei nützt, na bitte, „solange das alte Muster noch funktioniert“. Hauptsache, sie erreicht, was sie sich vorgenommen hat.
„Was kann ich, was will ich, wie krieg' ich das?“ – danach hat sie gelebt. Ein eher antiautoritäres Leben in einer autoritären DDR. Als Kind rennt sie aus dem Schulunterricht, wenn ihr grad danach ist, eine Zuckerschnecke zu kaufen. Beim Fahnenappell steht sie im Mantel, obwohl das FDJ-Blauhemd auch im kältesten Winter obligatorisch ist, sie riskiert eine große Lippe und ist trotzdem immer Klassensprecherin. Leistung glänzend, Benehmen mies – irgendwie ist das bis heute geblieben, ein „genetischer Defekt“, vermutet die eigene Mutter.
Fünf Jahre studiert Bärbel Grygier klinische Psychologie, das prägt sie. Der erlernte „diagnostische Blick“ ist jetzt ihr wichtigstes Fundament im neuen politischen Amt. „Ich erkenne sofort eine Klemmsituation, das hilft im Umgang mit Mitarbeitern genauso wie im Gespräch mit Wirtschaftsvertretern.“ Ihre Dissertation schreibt sie über ihr Lieblingsthema: soziale Normen und Gruppenbeeinflussung. Von der Humboldt-Uni wird sie 1981 mit einer Reise nach Westdeutschland belohnt – und schlägt sie aus. Sie will nun mal nach Paris, in den Louvre. Undankbare junge Genossin! Sie wechselt die Arbeitsstellen – für eine DDR-Karriere nicht gerade im Plan – sie vermarktet Bypass- Operationen gegen Devisen und erlebt, wie die DDR ihre letzten Blutreserven ins Ausland vertickt. Sie arbeitet als Eheberaterin und avanciert zur „Sexpertin“ der Nation: Im DDR-Jugendsender DT64 erteilt sie Aufklärungsunterricht. Orgasmusprobleme, Penislänge, Frigidität – ihre Sendung „Sex nach sieben“ wird nicht nur unter Jugendlichen zum heimlichen Renner.
Bärbel Grygier ist nicht verheiratet, nicht mit 20 und auch nicht mit 41. Der DDR-Zweikindfamilie läuft sie immer davon, was „sozialistische Lebensweise“ sein soll, hat sie ohnehin „nie kapiert“. Sie testet die Grenzen des DDR-Regimes aus und stößt auf Gummiwände. Sie ist SED-Mitglied und läßt es nie zum Bruch kommen, weil „es in der Partei eine Menge Leute gab mit einer Vision, wie Welt auch aussehen könnte“. Den „Visionen“ trauert Bärbel Grygier nach, der DDR selbst nicht unbedingt. „Ich habe mir meine DDR eben so gebastelt, wie ich sie für mein Leben brauchte.“ Mit der Bundesrepublik als Bastelwerkstatt tut sie sich deutlich schwerer. Den Westen erlebt sie immer noch wie ein Theater, aus dem man nach dem Schlußapplaus wieder geht. „Ich kann mich auf dem Parkett dort bewegen, aber ich bin dort nicht zu Hause.“
Zu Hause – das ist seit 20 Jahren eine Hausgemeinschaft im Ostberliner Bezirk Friedrichshain, „mitten zwischen besetzten Häusern, also beste Wohngegend“. Dort ist ihr Dienstwagen mit Chauffeur beliebtes Kneipengespräch. Aus ihrer Wohnung „zwei Zimmer, ohne Bad, kein Telefon“ kriegt sie so schnell keiner raus – auch nicht der Mann aus dem Westen, mit dem sie seit fünf Jahren zusammenlebt. „Der Junge mußte halt umziehen, ich wär' doch nie in den Westen gegangen.“
„Begrüßen wir ganz herzlich hier oben auf dem Podium“ – Frau Bürgermeister lächelt ins Publikum. Zusammen mit ihren Stadträten stellt sie sich dem „Bürgergespräch“. Neben ihr der Mann, „der keinen Arsch in der Hose“ hatte, Finanzstadtrat Matthias Stawinoga von der SPD. Bis heute wartet er auf eine Entschuldigung, und Bärbel Grygier weiß immer noch nicht so richtig, wofür. Aber ansonsten hat der SPD-Mann mit seiner einstigen Rivalin keine Probleme: „Der Stil im Bezirksamt ist lockerer geworden, die Arbeit läuft irgendwie besser.“ Anerkennung für die PDS-Frau auch von dem Mann zur Linken, Hohenschönhausens Sozialstadtrat Michael Szulczewski von der CDU: „Eine tolerante, durchsetzungsfähige Frau, die es schafft, für Konsens zu sorgen.“ Die meisten Konflikte, offene Genugtuung bei CDU und SPD, „hat die doch mit ihrer eigenen Partei“. Der eigenen Partei, der PDS, gehört Bärbel Grygier zwar nicht an, aber dort fühlt sie sich politisch zu Hause – auch wenn „die Partei“ so manches fordert, was die Bürgermeisterin nicht will: „Die versprechen den Leuten hier munter mehr Parkplätze, aber mehr Parkplätze für noch mehr Autos – das ist mit mir nicht zu machen.“
Vor fünf Monaten war Bärbel Grygier „untragbar“, heute hat sie ihr Umfeld auf Lob eingeschworen. Sie arbeitet akribisch, 14, 16 Stunden am Tag. „Sie denkt schneller, als ein Pferd rennt“, schwärmt einer ihrer Mitarbeiter, und fachlich „macht ihr so schnell keiner was vor“. Vor allem aber hat Bärbel Grygier einen neuen Umgangsstil eingeführt, wenig hierarchisch, unkonventionell, persönlich, direkt. Als erste Amtshandlung hat sie ihrem Bezirkskabinett eine Klausurtagung im Grünen verordnet, und alle zwei Wochen fahren sämtliche Stadträte mit ihr durch den Bezirk: „zur besseren Kommunikation“. Ein Politikstil ohne den Wust von bürokratischen Formalitäten – eine Fundgrube für politische Fallensteller.
Bisher hat Bärbel Grygier sich die Fähigkeit bewahrt, „dumme Fragen zu stellen“ – weil die oft die klügeren sind. Das gehört zu ihrer Lust an der Politik. Lust und Politik, überhaupt! „Sex und Politik haben viele Analogien. Darüber muß man doch reden können. Und wenn man die Leute befähigt, über Sex zu sprechen, sind sie auch offen für andere Sachen.“ Übrigens: Was die Aufregung über die „Arschaffäre“ angeht – eigentlich hätte sie da ja noch eins draufsetzen müssen: „Stellt euch mal vor“, hat Bärbel Grygier neulich in kleiner Runde 'rumgesponnen, „ich hätte gesagt: Ich pack' Männer auch gern mal am Schwanz.“ Aber das hätte entweder keine Zeitung gedruckt oder – wetten, daß? – die Frau wäre jetzt nicht Bezirksbürgermeisterin.
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