Perestroika für die Armee

■ Jelzin macht Wahlkampf mit der Wehrpflicht

Rußlands Armee droht Professionalisierung. In vier Jahren sollen sich die Streitkräfte nur noch aus Berufssoldaten rekrutieren. Boris Jelzin verfügte es per Dekret. Meint er es damit ernst, oder streut er dem potentiellen Wähler nur Sand in die Augen? Seit Wochen bereist der Zar sein Reich, verteilt oder verspricht zumindest Geschenke – mit ungedeckten Schecks, versteht sich.

Eine Perestroika der Armee wäre ein Segen für Rußland. Weder Eltern noch Großeltern möchten ihre Sprößlinge in dem verkommenen Heerlager der Streitkräfte vor die Hunde gehen sehen. Wer konnte, kaufte die Seinen seit eh und je frei. Funktionärssöhne sahen die „Schule der Nation“ selten von innen. Die Rekruten der untersten Schichten lernten hier hingegen, Erniedrigung widerspruchslos hinzunehmen und im Frieden als billige Arbeitskraft, im Krieg als Kanonenfutter zu dienen.

Selbst wenn Jelzin es ernst meint – was durchaus nicht verbürgt ist –, kommt die Armeereform einer Sisyphusarbeit gleich. Soll sie erfolgreich sein, muß ausreichend Geld herangeschafft werden. Und Experten müssen sich ihrer annehmen, die nicht in Amt und Funktion des Verteidigungsministeriums stehen. Denn das hat an einem Abbau der Streitkräfte und ihrer Professionalisierung kein Interesse. Qualifikation scheint eher hinderlich. 2.500 Generäle tummeln sich auf der höchsten Führungsebene. Sollen sie ihr bequemes Leben aufgeben? Seit Jahrzehnten haben sie Rekruten als Sklaven gehalten, die ihnen ihre Datschen bauen und den Gattinnen die Einkaufstaschen nach Hause schleppen. Schon vor der Perestroika lernten nur wenige Soldaten den Umgang mit der Waffe.

Jelzin scheint die Armee im Wahlkampf nicht mehr zu fürchten. Sonst hätte er ihr diese Hiobsbotschaft erspart. Der kleinere Teil der Streitkräfte hält bis dato noch zu ihm, der größere bevorzugt Politiker wie den Nationalisten Schirinowski oder den Kommunisten Sjuganow. Das förderte eine geheime Studie der KP zutage. Jene Militärs sind für Jelzin ohnehin verloren. Im Falle eines erneuten Wahlsieges von Jelzin wird die Armee um ihren Klassenerhalt kämpfen müssen. Wenn der Präsident wirklich ernst macht, wird sie mit Sabotage antworten. Das hat immer Aussicht auf Erfolg. Klaus-Helge Donath