„Extra! Extra!“

■ Doku: „Zeitungsjungen in Amerika“

Der amerikanische Traum ließ sie an der nächsten Straßenecke stehen. Für ein paar Stunden der Gosse entkommen, brachten die Newsboys Mitte des 19. Jahrhunderts die Schlagzeilen unters Volk – und polsterten mit den überzähligen Ausgaben ihr Nachtlager auf dem New Yorker Asphalt.

Indem sie soziale Wirklichkeit und Abbilder einer romantischen Fangemeinde, die dem Newsboy auf seiner Flucht nach vorn bald schon am Rockzipfel hing, gegenüberstellt, dokumentiert Martina Müller den Aufstieg des amerikanischen Zeitungsjungen zum urbanen Pionier als eine Erfolgsgeschichte im doppelten Sinn.

Mitte des 19. Jahrhunderts von Schriftstellern und Malern als Ikone der amerikanischen Leistungsgesellschaft entdeckt und „weichgezeichnet“, spiegeln Jacob A. Riis' Fotoreportagen aus den Mietskasernen der ältesten New Yorker Slums erstmals die rauhe Wirklichkeit der bettelarmen Emigrantenkinder. Ein Job war für sie die einzige Alternative zum Leben im Ghetto der Einwanderer. Während die ältere Generation im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu straucheln begann, waren die Kinder bereit, sich für einen hohen Preis in die Gesellschaft der Geschäftemacher einzukaufen. Mit dem spanisch-amerikanischen Bürgerkrieg begann 1898 ihre große Zeit. Als Dutzende von Zeitungen um neugierige Leser buhlten, wurden sich die Kinder der Straße ihrer Stärke bewußt. David gegen Goliath, initiierten sie in zuvor nie praktizierter Eintracht einen Aufstand gegen jene Verleger, die ihnen vom großen Gewinn keinen Penny überlassen wollten. Etwas voreilig nannten Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst die Newsboys-Revolte im Sommer 1899 „den entzückendsten Streik, den sie je gesehen haben“. Newsboys verweigerten damals die Auslieferung mehrerer Ausgaben, der Absatz ging zurück, und die mächtigen Zeitungsbarone gingen schließlich auf die bescheidenen Forderungen ihres Fußvolks ein.

Das aus Porträts, Fotos und dokumentarischem Filmmaterial zusammengesetzte Mosaik über die Newsboys ist weder betuliche Anklage gegen Kinderarbeit noch romantischer Rückblick auf die minderjährigen Geburtshelfer der Moderne. Temporeich auf einen ausgezeichneten Soundtrack geschnitten, präsentiert die Dokumentation Kulturgeschichte im passenden Rhythmus: als visuelle Rotationsmaschine. Martina Stork